Allerdings: „Auf der ganzen Welt scheint man davon überzeugt zu sein, dass die richtige Erziehung darin bestehen muss, konsequent Scham, Zweifel, Schuld- und Furchtgefühle im Kinde zu erwecken.“ (Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus)
Ob wir als Erwachsene uns nun selbst lieben und schätzen, hängt davon ab, ob unser wahres Wesen früher versteckt werden musste und wir mehr und mehr eine „Als ob“-Persönlichkeit entwickelten, um den Eltern (wenigstens ansatzweise) zu gefallen. In einer Kindheit mit einem emotional kühlen und reservierten Klima ohne liebevolle Anerkennung werden die fehlenden Gefühle oftmals durch Geschenke in Hülle und Fülle ersetzt: Materielle Zuwendungen statt liebevoller Zuneigung. Das alles hat zur Folge, dass wir anderen Menschen nicht spontan und mit offenem Herzen begegnen können, was wiederum zu Gefühlen von Verlassenheit, Leere und Entfremdung in uns selbst führt.
Eltern entdecken in ihren Kindern unweigerlich ihre eigene Kindheit und die oft schwierige Beziehung zu ihren Eltern wieder. Angesichts bestimmter Handlungen, Worte oder Einstellungen ihrer Kinder tauchen sie in die eigene Vergangenheit ein und erinnern sich an die Reaktionen ihrer Eltern. Gefühle von einst werden wach, manchmal nur für den Bruchteil einer Sekunde und deshalb meist unbewusst. Die Schläge, die sie selbst bekamen, verabreichen sie nun ihren Kindern. Dieser Ausbruch, mit dem sie sich abreagieren, verhindert dann, eine einstmals erlebte Demütigung oder Verletzung nochmals zu spüren. Sie lernten von ihren Eltern, dass Gewalt der angemessene Weg sei, Konflikte zu lösen. Um sich selbst zu schützen werden viele Kinder zwar bald vergessen, wie häufig und warum sie geschlagen wurden. Aber später werden sie dasselbe mit Schwächeren tun.
In meinem Umfeld gibt es einen Vater, der früher von seinem eigenen Vater verprügelt wurde und nun selbst sein kleines Kind schlägt. Die Mutter drohte ihm mit dem Rechtsanwalt, wenn er auch nur noch ein Mal dem Kind gegenüber gewalttätig würde. Er begründete seine Maßnahmen damit, dass er früher auch geschlagen worden sei und es ihm nicht geschadet habe. Seine Frau entgegnete ihm: Das glaubst aber nur Du! Sie hat vollkommen recht, denn er ist ein zutiefst gestörter Mensch, der keine Hilfe sucht, weil er seinen eigenen Schwächen und schmerzhaften Erfahrungen gegenüber blind ist.
Über einer Kindheit liegt fast immer ein elterlicher Schatten, aber wir können nicht alle Probleme und Krisen, die uns in unserem Leben begegnen, auf ein Fehlverhalten unserer Eltern zurückführen. In der „Schule des Lebens“ müssen uns eben Schwierigkeiten begegnen, an denen wir wachsen und reifen sollen, und so sind komplizierte Beziehungen, Krankheiten, Probleme am Arbeitsplatz und anderes mehr eine Aufgabe, die uns herausfordert und eine Lösung abverlangt.
Jedes Kind hat seine individuelle Wesensstruktur und jeweils unterschiedliche Bedürfnisse. Ein sehr sensibles Kind - vor allem ein hochsensibles Kind - braucht vielleicht dringend eine Kuschelmutter mit ganz viel Nähe. Ein Kind mit einer eher unabhängigen Natur fühlt sich eingeengt, wenn die Mutter es zu sehr bemuttert etc. Später hat es als Erwachsener Angst vor Trennung oder vor zu viel Nähe. Wenn wir oft kritisiert wurden, weil die Eltern es nicht besser wussten, ist unser Selbstwertgefühl geschwächt. Manche Eltern sind übervorsichtig und kontrollieren ängstlich die Wachstumsschritte ihrer Kinder, die sich somit nicht frei entfalten können und später selbst ängstlich bleiben. Man kann nun diesen Eltern keinen Mangel an Liebe vorwerfen, aber dennoch tun sie ihren Kindern nichts Gutes.
Eine missglückte Eltern-Kind-Beziehung hat unendlich viele Gesichter. Man ist zwar nicht traumatisiert und hegt auch keine Hassgefühle gegen seine Eltern, und doch erzeugen manche Erinnerungen Wut in einem, und man kann sich immer wieder über bestimmte Verhaltensweisen und Reaktionen seiner Eltern schrecklich aufregen. Wenn ich daran denke, dass ich mich nicht entsinnen kann, von meiner Mutter jemals in den Arm genommen worden zu sein, flammt noch heute ein kurzer „heiliger“ Zorn auf, ich fühle mich dann immer noch um die Mutterliebe betrogen. Ich kenne kaum einen, der sich nur positiv an seine Kindheit erinnert. So finden Sie also in den folgenden Kapiteln nicht nur die Dramen einer missglückten Kindheit, sondern auch die leiseren Verletzungen und deren Auswirkungen.
Alles beginnt schon vor der Geburt
In der Erforschung der neun Monate im Mutterleib ist die Wissenschaft zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen, auch was die psychische Entwicklung des ungeborenen Kindes angeht und wie bedeutsam die Rolle der Eltern, vor allem natürlich der Mutter, dabei ist. Die vorgeburtlichen Erlebnisse, das Klima der Ehe haben einen großen Einfluss auf unsere spätere Entwicklung, auf unser physisches und psychisches Wohlergehen. Wenn ein Kind freudig erwartet und nach der Geburt von der Mutter nicht getrennt wird, sondern Körper- und Augenkontakt (Bonding) stattfindet, kann sich zwischen Mutter und Kind ein nachhaltiges Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln.
Alle Emotionen und körperliche Belastungen, denen die Mutter während der Schwangerschaft ausgesetzt ist, haben einen weit reichenden Einfluss auf das werdende Kind. Obwohl diese Tatsache bereits recht bekannt ist, kann sich die Mutter oftmals nicht vor schwierigen psychischen und körperlichen Einflüssen schützen, im Gegenteil: Gerade während dieser neun Monate ist sie oftmals extrem schwankenden Stimmungen ausgesetzt. Besonders wichtig ist natürlich auch die Beziehung zu ihrem Partner, dem Vater des Kindes. Wut, Bedrohungen, Depressionen und partnerschaftliche Differenzen teilen sich sofort dem Ungeborenen mit. Bei Angst etwa werden vermehrt Stresshormone ausgeschüttet, auf die der Fötus entsprechend reagiert. Auch starker, anhaltender Stress ist nicht nur für die Mutter, sondern ebenso für den Fötus und dessen spätere Entwicklung als Kind sehr belastend. Bei Depressionen der Mutter während oder gegen Ende der Schwangerschaft hat man physiologische Werte beim Neugeborenen festgestellt, die einen Hinweis auf diese Beeinflussung geben und nachhaltige Auswirkungen haben können.
Eine Mutter, die ihr Kind nach der Geburt ablehnt, vernachlässigt oder sogar misshandelt, wird es während der Schwangerschaft kaum mit liebevollen Gefühlen verwöhnt haben. So muss man davon ausgehen, dass Kinder, die in diese destruktiven Familien hineingeboren werden, im gewissen Sinne bereits „vorprogrammiert“ sind. Allerdings können wir daraus keine Regel machen, denn die Prägungen des Fötus sind auch von genetischen Grundlagen und anderem mehr bestimmt. Des Weiteren mag die Schwangerschaft für die eine Mutter eine Katastrophe sein, doch wenn das Kind schließlich auf der Welt ist, könnte sie es dennoch lieben lernen. Während eine Mutter, die sich auf ihr Kind freut, schließlich keine Liebe aufbringen und keine echte Bindung herstellen kann.
Unerwünschte Kinder produzieren weniger Bindungshormone, die für eine liebevolle Mutterbindung zuständig sind. Dieser Mangel an Oxytocin bleibt lebenslänglich erhalten und würde so manche Gefühlsproblematik nicht nur mit der Mutter, sondern später auch mit Partnern erklären. Nicht gewollte Kinder, die man versucht hat abzutreiben, sind den größten Ängsten und Bedrohungen ausgesetzt mit der Folge, dass sie sich später dem Leben gegenüber ängstlich verhalten. Hier können während der Schwangerschaft schon massive Ängste auftauchen, nicht überleben zu können. Die verdrängte Wahrnehmung des Ungeborenen, die im Körper gespeichert ist und bleibt, heißt: Todesgefahr. Wenn man wie ich später erfahren sollte, dass man unerwünscht war und abgetrieben werden sollte, dann können sich diese Ängste dennoch nach und nach auflösen, denn man weiß ja später, dass man den Absichten seiner Mutter nicht mehr ausgeliefert ist und nicht mehr in tödlicher Gefahr schwebt.
Neben diesen ersten negativen Prägungen lauern noch andere Gefahren für den Fötus: Die Lebensführung der Mutter hat einen großen Einfluss auf das spätere Leben des Kindes. Wenn die Mutter während der Schwangerschaft