Ein gravierendes Problem besteht darin, dass man zwar ahnt, dass seine Schwierigkeiten mit den Erfahrungen seiner Kindheit verbunden sein könnten, aber einem fehlt die konkrete Erinnerung, oder aber man will sich lieber nicht an die ersten Lebensjahre erinnern. Und wenn man es dann doch wagt, weil die Belastungen zu groß geworden sind, dann fehlen einem viele Bruchstücke, und man kämpft vergebens mit den Gespenstern der Vergangenheit. Ich konnte Einblick in die schmerzhaften Erfahrungen so mancher Kindheit gewinnen, und mir wurde immer verständlicher, dass diese lieber nicht ins Bewusstsein gelassen, sondern verdrängt werden. Es ist die bewusste oder unbewusste Angst davor, der Realität der damaligen Erfahrungen und den Kräften, die heute noch vernichtend oder auch subtil in uns schlummern, nicht gewachsen zu sein. Wahrscheinlich halten wir an der Idealisierung unserer Eltern auch fest, da wir meinen, ohne diese vermeintlich positiven Vater- und Mutter-Bilder nicht überleben zu können.
Die Folge ist, dass wir immer wieder in innere Konflikte und äußere Situationen geraten, die Depressionen, Wut, Beziehungsdramen, Rückzug und diverse psychosomatische Krankheiten auslösen, sodass wir nicht in der Lage sind, unseren Lebensweg zufrieden, gesund und sinnvoll zu gestalten. Der Sinn eines Lebens ist oftmals erst zu erkennen, wenn wir wissen, warum diese vielen schmerzhaften Umwege und Erfahrungen notwendig waren und die Ursachen bewusst gemacht, erkannt und verarbeitet werden konnten. Aber es geht nicht nur um intellektuelle Bewusstmachung, sondern um die damaligen Emotionen, die nach-gefühlt werden sollten, denn: „…die Erinnerung, welche die damit verbundenen Gefühle heraufbringt, geben Anlass zur Hoffnung auf Bearbeitung der Kindheit und so auf Verheilung der Wunden.“ (Kathrin Asper: Von der Kindheit zum Kind in uns) Meist ist für diesen leidvollen Prozess eine Therapie notwendig, besonders wenn man ahnt, dass man es alleine nicht schafft, vor den inneren dunklen Dämonen zu kapitulieren. Aber dafür müssen wir mit Mut den Widerstand ersetzen, der uns abhält, unsere Kindheit zu erforschen.
„Die meisten Menschen tun genau das Gegenteil. Sie wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und wissen daher auch nicht, dass sie im Grunde ständig von ihr bestimmt werden, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben. Sie wissen nicht, dass sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbewussten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen, in pervertierter Weise bestimmen, solange sie unbewusst und ungeklärt bleiben.“ (Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes)
Wenn wir aber nun kapitulieren, weil das innere und äußere Erleben unerträglich geworden ist, und wir uns einer psychologischen Therapie unterziehen wollen, dann wartet schon das nächste Problem auf uns: Wie finde ich einen Therapeuten, der mich empathisch begleitet, der die innere Realität meiner Kindheit anerkennt, der nicht das vierte Gebot über meine Gesundung stellt? Ist ihm das Thema der Hochsensibilität bekannt oder degradiert er mich als viel zu empfindlich? Darüber mehr im Kapitel „Wie sinnvoll sind Therapien?“.
Wenn unsere Kindheit Schatten wirft, dann können diese uns noch viele Jahre – meist lebenslänglich – verfolgen. Wir befinden uns in einer tiefen Dunkelheit, wir leiden und wissen nicht warum, dürfen und können nicht so sein, wie wir sind und sein wollen. Unsere Eltern erzeugten, manchmal ohne es zu wissen, eine Dunkelheit, eine Schattenlandschaft in uns, in die wir später, wenn uns bewusst wird, was mit uns geschehen ist, unter größten Anstrengungen Licht bringen müssen.
Schatteneltern
„Schatteneltern“ - so bezeichne ich jene Eltern, die auf unser Leben besonders dunkle Schatten werfen - sind ein Schicksal, das uns, aus welchen Gründen auch immer, aufgebürdet und als lebenslängliche Aufgabe mitgegeben wurde. Der psychologische Terminus „Schatten“ bezeichnet Wesensanteile, die auch von den Eltern deformiert wurden und die wir verleugnen müssen, sodass sie uns gar nicht bewusst sind. Eltern erzeugen also oftmals nicht nur einen dunklen Schatten in unserer Kindheit, sondern berauben uns auch unseres angeborenen Potenzials, sodass wir vor lauter Verdrängung und Unbewusstheit keine Ahnung von unserem wahren Wesen haben. Nur eines wissen und fühlen wir: Wir werden so, wie wir sind, nicht geschätzt und geliebt, und schließlich lieben wir uns auch selbst nicht. Da wir meistens sowohl Eltern als auch Kind sind, scheint mir eine Erhellung dieser Problematik doppelt notwendig.
Der „Tatort“ Elternhaus begegnet uns in allen sozialen Schichten. In meinen vielen Gesprächen mit Betroffenen kristallisierte sich ein erschreckendes Bild heraus. Es waren nicht nur die kaum zu verarbeitenden traumatischen Erfahrungen durch Gewalt, Inzest und anhaltende Bedrohung, die das Leben und die Entwicklung des Kindes so destruktiv beeinflussten, sondern ebenso die leisen Verletzungen: physische und vor allem psychische Vernachlässigung. Sexueller Missbrauch stellt unzweifelhaft die traumatischste Form einer Misshandlung dar, doch neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass emotionaler Missbrauch, also auch Vernachlässigung, und körperlicher Missbrauch ähnlich schwerwiegende Folgen für die Betroffenen haben können.
Aber Eltern sind keine Übermenschen und machen Fehler wie wir alle. Ein seit Stunden nörgelndes, schreiendes und nicht gehorchendes Kind erzeugt Wut, die manchmal schwer beherrschbar ist. Wenn wir unserem Kind einen leichten Klaps geben, wird es sicher nicht traumatisiert, aber dennoch sollten Eltern ihre Kinder niemals schlagen und ihre heftigen Wutimpulse kontrollieren. Wenn uns die Hand dann doch einmal ausgerutscht ist, sollten wir uns entschuldigen und dem Kind erklären, warum das passiert ist und dass es niemals mehr geschehen wird (hoffentlich). Unzulängliche Eltern sind meist nicht wirklich böse, aber durch ihr Fehlverhalten deformierten sie uns, und wir sind es, die mit den Folgen leben lernen müssen.
Wenn wir davon ausgehen, dass ein Mensch sich selbst (und andere) lebenslang so behandelt, wie er als Kind behandelt wurde, dann müssen wir uns dringend unsere Kindheitssituation im Spiegel unserer Eltern ansehen. Unser besonderes Augenmerk sollte auf die ursächlichen Probleme von Vater und Mutter gerichtet werden, die damals die familiäre Atmosphäre bestimmten und (manchmal eben auch uns) vergifteten.
Schwierigkeiten innerhalb der Ehe der Eltern haben ungeahnte und meist bleibende Auswirkungen auf die Psyche des Kleinkindes. Es ist erstaunlich, wie oft sich bewahrheitet, dass die ungelösten Probleme der Eltern untereinander im Kind wieder auftauchen. Heute glauben wohl nur noch die wenigsten, dass die kleinen Kinder „nichts mitkriegen“ von ihrem Umfeld und der gestörten Atmosphäre, dass sie nicht spüren, welche Wutenergien sie umgeben, manchmal unsichtbar, weil die Eltern ihre Fehden nicht vor dem Kind austragen, aber dennoch ebenso wirksam. Sie können sogar noch gefährlicher sein als offene Auseinandersetzungen, nach denen die Luft wieder rein ist. Hinzu kommt, dass durch die „participation mystique“, einer gefühlsmäßig erlebten Identität, das Kind mit all diesen Emotionen und Gedanken in Form von Energiemustern verbunden wird und ihnen ausgeliefert ist.
„Ein Kind ist so sehr ein Teil der psychologischen Atmosphäre der Eltern, dass geheime und ungelöste Schwierigkeiten seine Gesundheit beträchtlich beeinflussen können. Die ‚participation mystique’, das heißt die primitive unbewusste Identität, lässt das Kind die Konflikte der Eltern fühlen und daran leiden, als ob sie seine eigenen wären. Es ist sozusagen nie der offene Konflikt oder die sichtbare‚Schwierigkeit, welche die vergiftende Wirkung hat, sondern es sind die geheim gehaltenen oder unbewusst gelassenen Schwierigkeiten der Eltern…Dinge, die in der Luft liegen und die das Kind unbewusst fühlt, die niederdrückende Atmosphäre von Befürchtungen und Befangenheit dringen mit giftigen Dämpfen langsam in die Seele des Kindes ein.“ (C.G. Jung: Über die Entwicklung der Persönlichkeit)
Unterdrückte Emotionen und lieblose Verhaltensweisen der Eltern untereinander werden sich meistens auch im Umgang mit dem Kind und besonders in ihm selbst fortsetzen, weil es seinen Zorn und andere Emotionen nicht zeigen darf oder nicht zeigen kann. Wenn Mutter und Vater selbst keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben, wissen sie oft nicht, was ein Kind fühlt, denn durch ihre eigenen leidvollen Gefühle in der Kindheit, die sie nicht zulassen durften, sind sie auch später noch von ihrer Gefühlswelt abgeschnitten. Für ein hochsensibles Kind ist die frühkindliche Situation so verfahren und deformierend, dass die gravierenden Folgen lebenslänglich