Tschapka. Mike Nebel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mike Nebel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748592488
Скачать книгу
mir auf.

      „Ich wollte es einmal mit diesem Abstrakt-Dings probieren …“, versuchte ich die Kurve in die richtige Richtung zu kriegen.

      „Nur mit der Kohle, …du bist im Umgang mit Kohle natürlich noch etwas ungeübt, aber wird schon noch Ronny.“ Ja, wird schon noch, irgendwann, murmelte ich in meinem Kopf.

      „Nun zum Wesentlichen. Hat dein Werk einen Titel?“

      „Einen Titel? Ich wusste nicht, dass wir den Bildern auch Titel geben mussten …, vielleicht „Autos, Menschen, Häuser“?“

      „Ronny, das ist doch kein Titel. Weißt du nicht, was ein Titel ist? So etwas wie eine Überschrift.“

      „Na gut, ich muss nachdenken …vielleicht …“

      „Ronny, wir nennen es Rush Hour. Bist du damit einverstanden?“

      Mir fiel sowieso nichts Besseres oder überhaupt irgendein Titel ein und „Rush Hour“ fand ich ganz gut. Ein englischer Titel, immerhin. „Rush Hour, guter Titel, ja, Rush Hour.“

      „Gut Ronny, und jetzt erkläre mir deine Gesellschaftskritik in deinem Werk „Rush Hour“. Ich bin mir sicher, dieses Bild strotzt nur so vor Gesellschaftskritik. Ich hefte dein Bild an die Tafel und du beginnst zu erzählen. Drehe dich bitte zur Klasse Ronny. So ist recht.“

      Und in diesem Moment bekam ich das, was auch mir in späteren Jahren hinlänglich als Black-Out bekannt wurde. Ich glotzte in die erwartungsvollen Gesichter meiner Mitschüler, dann durch die Fensterfront nach draußen, wo ich in der Raucherecke mir bekannte ältere Schüler sah, die mit ihren Fingern auf mich zeigten, übermäßig grienten, schwatzten, und die üblichen unpassenden Hand- und Mundbewegungen oraler sexueller Andeutungen vollführten. Nur zu gut wussten sie, dass ich mich in einer misslichen Lage befand. Dann wurde es wieder quälend leer in meinem Kopf und ich schwieg unaufhörlich, sicherlich auch peinigend für einige meiner Mitschüler, in den Klassenraum hinein.

      „Ronny, ich gebe dir etwas Hilfestellung. Möglicherweise ist deine Form der Kritik so komplex, aber auch so punktiert, dass du selbst kaum die richtigen Worte dafür findest. Geht es dir um die negativen Folgen der urbanen Zivilisationsentwicklung? Ist es deine Kritik an der modernen Zivilisation? Ronny, nun sprich doch!“

      „Zivisilation …ja …vielleicht …ganz bestimmt.“

      „Ronny, es ist mir egal, ob du es richtig aussprechen kannst oder nicht. Ist es das? Sprich doch! Um welche Aspekte geht es dir genau? Erkläre dich, Junge!“

      Jetzt wurde es richtig taub in meinem Kopf und die Gesichter meiner Mitschüler verformten sich immer mehr zu tierischen Fratzen, die nur auf mein weiteres Versagen warteten.

      „Ronny, jetzt höre mir zu! Was dein Malen angeht, gehörst du vielleicht nicht zu den Besten in der Klasse, aber jetzt erkenne ich ganz viel in dir, hörst du! Du musst es nur ausdrücken. Ich sage dir jetzt ein paar Stichworte und du folgst mit deinen Erklärungen: Luftverschmutzung, soziale Isolation, soziale Kälte, Konsumzwang, Rücksichtslosigkeit, Verelendung, Anonymität. So Ronny und jetzt du! Nimm den Ball nur auf und las es raus!“

      „Ano …was?“ Ja, kann schon sein, von jedem etwas, ich bin mir nicht sicher. Mir ist nicht gut.“

      „Ronny, antworte jetzt nur noch mit ja oder nein! Ich gebe dir eine Form der Kritik vor und du sagst ja oder nein. So schaffst du das. Wenn du es hinbekommst, kriegst du einen „Einser“, wenn nicht, nur einen „Dreier.“

      „Mir wird übel, Herr Lehrer.“

      „Ja Ronny, mir wird auch übel, wenn ich sehe, wie treffsicher kritisch du das Übel der überbordenden Großstadturbanität zu Papier bringen konntest. Übel, aufgrund der Folgen von immer nur mehr und mehr in unserer Gesellschaft.“

      Dies waren die letzten Worte, die ich von meinem Kunstlehrer hörte. Als ich wieder aufwachte, lag ich auf dem Boden und meine Beine waren nach oben gegen das Lehrerpult gestellt. Über mir gebeugt erkannte ich Cordula, eine Einser-Schülerin in Kunst und in allen anderen Fächern auch. „Ronny, du bist umgefallen und wir haben dich in die Schocklage gelegt, damit Blut wieder in dein Gehirn fliest.“ In einem Zustand zwischen wach und dämmernd ließ ich meinen Kopf kreisen, spürte, wie mein Kunstlehrer mir den nassen Tafelschwamm über die Stirn rieb und ich sah viele andere Köpfe über mir, meist die der Mädchen aus der Klasse. Und dann erkannte ich einen Sanitäter, ein sehr großer Mann in einer gummiähnlichen weiß-roten Uniform, die quietschte, wenn er sich bewegte. Er legte mir einen Gurt um den Oberarm und zog ihn so fest zu, dass ich dachte, mir würden die Augäpfel aus dem Kopf schießen. War meine Tortur noch immer nicht am Ende angelangt? Schließlich beugte sich mein Lehrer wieder ganz nah zu mir herab.

      „Ronny, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber ich kann dir nur einen „Dreier“ geben. Ich habe mit deiner Mutter telefoniert, sie wird dich gleich abholen. Erhole dich erst mal zu Hause.“

      Einen „Dreier“? Warum nicht gleich so? Warum musste ich erst halb tot dafür umfallen? Warum nur? Ich blieb noch einen Moment in Schocklage auf dem Boden liegen und genoss die Aufmerksamkeit meiner Mitschüler. Ganz besonders genoss ich Cordulas Nähe, die neben mir im Schneidersitz saß und meine Hand hielt. Cordula wusste zwar nicht viel mit Jungs anzufangen, aber mit ihrem hochbegabten Kopf, eingerahmt von gekräuseltem Haar und ihrer mondförmigen, riesigen schwarzen Brille, hatte sie es nicht nur zur Klassensprecherin geschafft, sie war auch immer diejenige, die sich zur Rettung auf jene stürzte, die sich mal in geistigen oder körperlichen Schieflagen befanden. So wie ich in dieser Situation. „Ronny, trinke etwas aus meiner Milchtüte, da sind viele gute Sachen drin, die Vitamine und Mineralstoffe werden dir guttun. Trink etwas, saug kräftig am Trinkhalm.“ Ich hob meinen Kopf vom Boden etwas an und zog dreimal an ihrer Milchtüte. Dann folgte das Geräusch aus Luft und Milchresten, dann war ihre Tüte leer.

      „Komm Ronny, versuche dich aufzurichten, halte dich am Tisch fest, siehst du, es geht doch wieder. Wenn du möchtest, dann gebe ich dir gern auch mal Nachhilfe in Kunst, in allen anderen Fächern natürlich auch.“

      „Danke Cordula, vielleicht sollten wir das tun, mir fallen da so einige Fächer ein. Viele Fächer.“

      Ich blickte nun stehend durchs Klassenzimmer, kein Schwindel, nichts war schwarz vor meinen Augen. Alles war wieder gut, so gut, dass ich mich am liebsten sofort in die Raucherecke nach draußen verzogen hätte. Mutter kam in diesem Moment ins Klassenzimmer, rief kurz „wo ist mein Ronny?“ durch den Raum, besprach sich dann am Pult mit unserem Kunstlehrer und dem Sanitäter, während ich meine Malsachen zusammenpackte. Ich hörte Wortfetzen wie „ausruhen“, „mit dem Jungen reden“, „im Kopf durcheinander“ und „wenig strukturiert“, was auch immer dies alles bedeuten sollte. Letztlich nahm mich Mutter an die Hand und wir verließen das Klassenzimmer. Mutter nahm einen Vierzehnjährigen an die Hand wie einen Vorschulbuben. Wir fuhren zwei Stationen mit dem Bus ins Dorf hinein, den Rest unsere Strecke liefen wir zu Fuß.

      „Ronny, was ist denn da mit dir passiert? Ich werde deinem Vater nichts von dem Anfall, oder was auch immer es war, erzählen, und morgen gehst du wieder in die Schule, klar?“ Am Dorfkiosk machten wir kurz halt, Mutter kaufte sich eine frische Packung Zigaretten, riss diese sofort auf und qualmte erst mal mit tiefen Zügen eine durch.

      „Komm Ronny, nimm auch eine, das beruhigt.“

      Ich zog ein paarmal durch und spürte, wie die belebende Wirkung der Milch sofort verflog und durch Nebelschwaden in meinem Kopf ersetzt wurde. Wie unterschiedlich doch Menschen reagieren, wenn man aus den Latschen kippt. Von Cordula bekam ich Milch, von Mutter eine Zigarette spendiert.

      „Mutter, das Einzige, was ich daraus gelernt habe, ist, es wird langsam Zeit, dass ich lerne vernünftig zu lügen, so wie es jeder andere normale Mensch auch tut.“

      „Ja, Ronny, mach das, habe immer eine kleine Geschichte parat.“ Schließlich trotteten wir stumm nebeneinander nach Hause.

      Fünfzehn Jahre später, in einem der vielen Räume eines Universitätsgebäudes, dachte ich für einen Augenblick genau an dieses Erlebnis zurück.

      „Herr