»Meine Großtante ist gestorben.«
»Was? Wer? Du hattest eine Großtante? Ich dachte, deine Mutter wäre deine einzige Verwandte.«
»Ich hatte die Tante vergessen. Ich kannte sie ja kaum. Ich bin ihr nur einmal in meinem Leben begegnet.«
Jens antwortete nicht.
»Googel mir bitte mal Küstrow. Mit W am Ende.«
»Googel selbst«, sagte Jens.
»Bitte«, sagte Sophie, »du sitzt doch gerade am Rechner. Bevor ich meinen hochgefahren habe, hast du mir Küstrow schon dreimal aufgerufen.«
»Was ist das? Wozu willst du das denn wissen?«
»Das ist eine Stadt. Ich muss dort aufs Gericht.« Sophie wedelte mit dem Schreiben.
»Aber doch nicht jetzt gleich, oder?«
»Jens, bitte …«
»Hat dich jemand verklagt?«
»Jens, bitte! Es ist wegen der Großtante. Ich bin ihre Erbin.«
Jens sah von seinem Display auf. »Ach, echt? Hast du was geerbt?«
»Anscheinend, ja.«
»Was denn?«
Er streckte die Hand nach dem Schreiben aus, aber Sophie gab es ihm nicht. Sie sagte: »Keine Ahnung. Steht hier nicht drin.« Dann deutete sie auf Jens’ Rechner. »Küstrow. Mit K am Anfang und W am Ende.«
Jens schnaufte. Er tippte auf seiner Tastatur und sagte dann: »Küstrow in Brandenburg, dreißigtausend Einwohner, ist das dein Küstrow? Eine kleine Stadt, irgendwo in der hinterletzten Pampa, an der polnischen Grenze?«
»Gibt es noch ein Küstrow?«
»Nein.«
»Dann ist es wohl das Richtige.« Oh je, dachte Sophie. Das sind mindestens fünf Stunden Fahrt. Zehn Stunden hin und zurück, oder mehr. Im Winter. In meinem altersschwachen Wagen. Nur um einige Papiere abzuliefern …
Sie ging ins Schlafzimmer und grub aus ihrem Kleiderschrank einen alten Schuhkarton aus, den sie ganz unten und ganz hinten aufbewahrte, wie um ihn zu verstecken. Seit Jahren hatte sie ihn nicht hervorgeholt. Er enthielt keine Geheimnisse, nur Dokumente, Papiere, Fotos und kleine Andenken an die Familie, von der Sophie einmal ein Teil gewesen war. Sie breitete den Inhalt des Kartons auf ihrem Bett aus. Dokumente und Briefe waren noch mit Schreibmaschine geschrieben, Fotos vom Alter verfärbt. Sophie betrachtete sie zunächst ohne besondere Empfindungen. Was sie vor sich hatte, waren Echos aus einer fernen, ihr fremden Vergangenheit. Auf einigen Schwarzweiß-Fotografien sah Sophie Menschen, die sie nicht einmal kannte, und es gab wohl auch sonst niemanden mehr auf der Welt, der noch sagen konnte, um wen es sich handelte. Vielleicht die Eltern ihres Vaters? Sie starben, ehe Sophie alt genug war, sich an sie zu erinnern. Die Eltern ihrer Mutter, Spanier, die vor fünfzig Jahren nach Deutschland kamen, kannte Sophie, und sie lebten noch. Ihre eigenen Eltern auf deren großformatigem Hochzeitsfoto erkannte sie nur, weil sie wusste, wer abgebildet war. Auch sich selbst war sie fremd auf ihren Kinder- und Jugendbildern. Erst auf den Fotos von ihrer Abiturfeier sah sie sich endlich ähnlich, und Vater und Mutter sahen darauf aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Sie waren ein schönes Paar und besonders Sophies südländisch anmutende Mutter fiel auf. Der Anblick ihres Vaters bewegte Sophie schließlich doch noch, und sie erlaubte sich eine Minute der Trauer. Es war lange her, dass sie an ihn gedacht hatte, aber noch viel länger war er tot, verunglückt in einer regnerischen Nacht auf der Autobahn. Für immer jung, dachte Sophie, während sie sein Bild studierte. Er würde nie vor ihren Augen altern, kränklich und hinfällig werden und sterben. Für sie würde für immer ein gutaussehender, optimistischer Mittvierziger bleiben, der eines Abends Frau und Tochter zum Abschied geküsst hatte, in einen großen weißen Sprinter gestiegen, davongefahren und nie zurückgekehrt war.
Sophie schob die Fotos zur Seite und wandte sich den Papieren zu. Sie entdeckte rasch die Geburtsurkunde ihres Vaters, und ihre eigene auch. Ein Dokument, das ausdrücklich ihre oder ihres Vaters Verwandtschaft mit Tante Marie-Luise belegte, fand sie nicht. Sophie entschied nach kurzer Überlegung, dass das kein Problem sein konnte, denn das Nachlassgericht hatte sie ja bereits als Erbin identifiziert. Die Forderung, weitere Nachweise zu erbringen, musste eine Formsache sein.
Bei den Papieren fand Sophie auch Briefe und Honorarrechnungen eines Notars, der mit dem Nachlass ihres Vaters befasst gewesen war. Das brachte sie auf die Idee, einen Notar mit dem Nachweis ihrer Erbberechtigung zu beauftragen, statt hin und zurück tausend Kilometer zu fahren. Sie studierte die Rechnungen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was sie das kosten würde. Ein Notar war jedenfalls teuer, so viel fand sie heraus. Anscheinend wurde das Honorar irgendwie proportional zum Wert des Nachlasses berechnet. Es kam also darauf an, was sie geerbt hatte – hatte sie etwas geerbt? Was würde sie mehr (oder weniger) kosten, ein Notar oder eine Reise nach Brandenburg? Sophie musste solche Überlegungen anstellen. Sie hatte bisher nie viel verdient, und demnächst wäre sie arbeitslos. Sie besaß nur das wenige, was ihr der Vater in Form von ein paar Sparbriefen hinterlassen hatte. Dazu kam noch die Abfindung von ihrem letzten Arbeitsplatz. Aber das war auch nicht viel, sechs Monatsgehälter, und wahrscheinlich musste sie die auch noch versteuern … Seit ihrem Eintritt ins Erwachsenenleben lebte Sophie gezwungenermaßen sparsam, auch wenn ihr das nicht gefiel. Insgeheim fürchtete sie, dass ihr Geldmangel sie auf die Dauer kleinlich oder geizig machen würde oder schon gemacht hatte. Lieber wäre sie in Gelddingen so lässig, wie ihr Vater es gewesen war, und so unbekümmert wie ihre Mutter.
Eine Weile saß sie auf ihrem Bett zwischen Fotos und Papieren, bevor sie sich entschied. Es war letztlich wieder einmal Bequemlichkeit, die den Ausschlag gab: Sie würde einen Notar aufsuchen. Denn sie fürchtete sich mehr vor zehn Stunden Fahrt in ihrem alten Auto, noch dazu im Winter und in die tiefste, womöglich schneebedeckte ostdeutsche Provinz, als vor einer Rechnung über vielleicht einige Hundert Euro. Hatte sie erst einmal die Abfindung auf dem Konto, dann musste sie – wenigstes vorübergehend – keine Angst vor einer unvorhergesehenen Ausgabe haben. Und schließlich, sagte sie sich, irgendetwas würde sie ja ganz bestimmt erben, und das wog hoffentlich die Kosten für einen Notar auf.
Sophie legte die Urkunden, die sie brauchte, zur Seite, räumte den Rest der Bilder und Papiere wieder in den Schuhkarton und schob ihn zurück in den Kleiderschrank. Im Wohnzimmer saß Jens immer noch vor seinem Rechner.
»Jetzt, wo du reich bist«, sagte er, »solltest du endlich mal über zeitgemäße Anlageformen für dein Geld nachdenken. Sparbriefe bringen doch nichts.«
»Ich bin nicht reich«, sagte Sophie.
»Du musst die letzte direkte Verwandte deiner Großtante sein, sonst hätte jemand anderes vor dir geerbt«, sagte Jens. »Großnichten stehen in der gesetzlichen Erbfolge ganz weit hinten.« Sophie wusste nichts darauf zu sagen, und er fuhr fort: »Ich habe mal Seminare zum Erbrecht gemacht. Wir haben in meiner Bank oft mit Erben zu tun.«
Jens sagte immer ›wir‹ und ›meine Bank‹ und drängelte sich in jede innerbetriebliche Fortbildung. Er war fest entschlossen, irgendwie Karriere zu machen, und alles konnte nützlich sein.
»Ich glaube nicht, dass die Tante mir viel hinterlassen hat«, sagte Sophie. »Sie hat wohl den größeren Teil ihres erwachsenen Lebens in der DDR gelebt, wo es kaum Möglichkeiten gab, Reichtum anzuhäufen.«
»In der DDR …?« Jens verlor erkennbar das Interesse an Sophies Erbschaft. »Ist vielleicht auch besser so«, sagte er. »Als Großnichte musst du nämlich ohne Ende Erbschaftssteuer zahlen.« Dann wandte er sich wieder seinem Rechner zu.
Sophie suchte sich im Internet ein paar Notare heraus und schrieb deren Telefonnummern ab, um sie am nächsten Tag von ihrem Arbeitsplatz aus anzurufen. Sie würde zu demjenigen gehen, der ihr am ehesten einen Termin anbieten konnte.
3 – In ihren letzten zehn Arbeitstagen
war Sophie über Internet und Telefon mit einer dreihundert Kilometer entfernten Kollegin