Die Seelen der Indianer. Nina Hutzfeldt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nina Hutzfeldt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738086799
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auf.

      »Nein, nicht schon wieder. Kann Kevin nicht zu seiner Freundin fahren?«

      Kevin warf mir einen wütenden Blick zu.

      Okay, das war mir eine Nummer zu hoch. Ich nahm dankend den heißen Teller entgegen und rollte die Spaghetti auf meine Gabel.

      Die beiden diskutierten noch so lange, bis meine Mutter sie aus der Küche warf. Danach zog sie sich einen Stuhl zurecht und beobachtete mich beim Essen.

      »Was denn?«, nuschelte ich mit vollem Mund.

      »Nichts, ich schaue dir nur gerne zu.« Sie strich mir eine Strähne hinter das Ohr.

      »Okay.« Ich trank einen Schluck Wasser. Was war bloß in sie gefahren?

      »Wie war die Schule heute?«

      »Ach, ging so. Wir haben einen Test in Erdkunde geschrieben.«

      »Und hast du alles geschafft?«

      »Ja, aber ob ich alles richtig habe, weiß ich nicht.« Ich wickelte mir weitere Spaghetti auf die Gabel und schob sie auf den Löffel.

      »Lukas hat doch mit dir geübt, oder?«

      »Ja, aber ich weiß auch gar nicht, warum wir uns nicht mehr mit Deutschland beschäftigen. Schließlich wohnen wir doch hier, warum muss ich wissen, wo New Orleans oder New York liegt? Da möchte ich doch sowieso nicht hin.« Ich schob mir den Löffel in den Mund.

      »Ach, Schätzchen. Es ist schon wichtig zu wissen, wo große und berühmte Städte sind. Wäre dir das nicht unangenehm, wenn du dich später mit Freunden über andere Länder unterhältst, vielleicht wegen irgendwelchen Naturkatastrophen oder weil einer deiner Freunde im Urlaub war, und du erst einmal nachschlagen musst, wo sich diese Stadt oder das Land befindet, bevor du mitreden kannst?«

      »Ja, könnte sein«, seufzte ich und trank einen Schluck Wasser.

      »Nein, verdammt. Geh du doch mit deiner Tussi woandershin«, schrie Lukas und ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.

      »Deine Brüder machen mich wahnsinnig.« Angela stand auf, doch da kam Kevin schon in die Küche und setzte sich auf den freien Stuhl neben mich. Kevin war zwanzig, arbeitete in einer Autowerkstatt als Kfz Mechaniker. Mit seinen großen Händen und seiner schlanken Figur passte er gut unter die Motorhaube und in die kleinen Nischen im Wagen, um etwas zu reparieren. Außerdem profitierte unser Vater auch davon, denn wenn das Auto mal eine Macke hatte, war Kevin immer zur Stelle.

      Lukas dagegen war ein wenig breiter, trainierte fast täglich im Fitnessstudio. Er genoss sein Leben als Schüler und Mädchenschwarm. Er war jetzt in der Elften und würde nächstes Jahr in die Zwölfte kommen.

      »Mama, was soll ich bloß machen?« Kevin nahm, ohne zu fragen, mein Glas und trank einen Schluck. Danach verzog er angeekelt das Gesicht. »Das ist ja Wasser.«

      »Ja, was dachtest du denn?«, fragte ich schmunzelnd.

      »Sprite.« Er gab mir das Glas zurück.

      »Ich weiß auch nicht, Kevin«, sagte Angela und setzte sich wieder.

      Kevin stand auf und holte Cola und ein Glas aus dem Kühlschrank. »Möchtest du auch etwas, Mama?«

      »Einen Schluck vielleicht.« Sie legte den Kopf in die Wiege ihrer Hand.

      »Können wir nicht umziehen, so dass wir alle ein eigenes Zimmer haben?«

      »Jetzt noch, Kevin? Ihr werdet bald flügge werden und dann sitzen wir in einer viel zu großen Wohnung, die wir uns nicht leisten können. Wenn du erst einmal deine Ausbildung beendet hast, wirst du sicher nicht mehr bei uns wohnen bleiben wollen.«

      »Herrgott, nochmal.« Er ließ sich zurück auf den Stuhl plumpsen und fuhr sich mit der Hand durchs kurze Haar.

      »Wir werden heute Abend nochmal mit eurem Vater darüber sprechen.«

      »Aber Mama, heute Abend kommt doch Lena vorbei.«

      »Davor, dann hat sich dein Bruder sicher auch beruhigt und wir können uns wie Erwachsene unterhalten.«

      »Wenn du meinst.« Kevin trank sein Glas in einem Zug leer, stand auf und verließ die Wohnung.

      »Jetzt wären wir wieder allein.«

      Am Abend, als Papa von der Arbeit kam, schilderte Mama ihrem Mann den heutigen Mittag und erzählte ihm von der geplanten Familienrunde. Meine Tür stand einen Spalt offen, so dass ich alles prima aus dem Wohnzimmer, welches meinem Zimmer gegenüberlag, verfolgen konnte, bis mein Vater mit einem kurzen Lächeln die Tür von meinem Zimmer schloss.

      Nun waren beide Türen zu und ich fühlte mich wie in einem Zwinger. Ich mochte es nicht, wenn Türen geschlossen waren. Vielleicht war es ein Trauma von einer früheren Familie, an die ich mich nicht erinnern konnte, oder irgendetwas anderes. Nur wusste ich, dass geschlossene Türen nichts Gutes bedeuteten. Verbrecher werden eingesperrt, Geheimnisse besprochen, Klassenarbeiten geschrieben, Kinder misshandelt. Wobei Letzteres am schlimmsten war, fand ich.

      Ein Klopfen löste mich aus meinen Gedanken. »Herein.«

      Die Tür wurde geöffnet und ich spürte regelrecht, wie tief ich einatmete. Als hätte ich lange schon keine frische Luft mehr gehabt.

      Ein brünettes Mädchen mit grünen Augen blickte mir schüchtern entgegen.

      »Hallo, kann ich dir helfen?«, fragte ich, nur froh, dass jemand die Tür wieder geöffnet hatte.

      »Ähm, ja. Ich bin Lena. Ich wollte mich kurz vorstellen.« Sie kam auf mich zu und reichte mir die Hand.

      »Wo ist Kevin?«, fragte ich, was unhöflich war.

      Unsicher blickte sie sich um. »Der ist im Wohnzimmer bei deinen Eltern. Ich soll in deinem Zimmer warten, da Lukas sich eingeschlossen hat.«

      »Oh, nein«, stöhnte ich. »Komm erst einmal rein.« Ich winkte sie ins Zimmer und stand von meinem Bett auf, wo ich es mir gemütlich gemacht hatte, um zu lesen. Ich war eher damit beschäftigt, zu spionieren, aber das musste ja keiner wissen. »Wie unhöflich von mir. Ich bin Jordan.«

      »Du siehst so anders aus, als Kevin und Lukas.«

      »Ach«, ich winkte ab. »Ich bin adoptiert.«

      Lustig, endlich hatte mal jemand ausgesprochen, was wahrscheinlich alle dachten, sich nur nicht trauten anzusprechen.

      »Ach so.« Lena setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl und wartete. Sie blickte sich um.

      So konnte nur jemand gucken, der neu war.

      Mein Zimmer war ein typisches Mädchenzimmer. Eine lila Wandtapete mit Blumenmuster zierte die Bettseite, während die anderen Wände weiß blieben. Dafür hatte ich zwei große Bilderrahmen, die einen Sonnenaufgang und einen Untergang zeigten. Der Sonnenaufgang war für mich die schönste Zeit des Tages. Man begann den noch jungen Tag mit einem Lächeln. Ungebraucht und frisch schienen dir die ersten Strahlen beim Öffnen des Fensters entgegen und du wusstest, dass dieser Tag etwas ganz Besonders mit sich bringen würde. Eine kindliche Neugierde umgab dich und manchmal erfuhrst du auch herbe Enttäuschung, wenn sich die dicken Wolken am Himmel um den besten Platz vor der Sonne stritten.

      »Schön hast du es hier. Du liest gerne.« Lena stand auf und ging auf mein Bücherregal zu.

      Bitte nichts anfassen, bitte bloß nichts anfassen, dachte ich.

      Ich hasste es, wenn man meine Bücher anfasste. Es waren meine und niemand hatte das Recht, sich eins meiner Babys, wie ich sie immer nannte, aus dem Regal zu nehmen. Vielleicht rührte mein eigenartiges Verhalten, welches ich manchmal an den Tag legte, daher, dass ich nicht wirklich eine Freundin hatte, mit der ich alles teilen konnte. Lena fuhr mit dem Finger über die Buchrücken.

      »Ich liebe Bücher, sie führen mich in fremde Welten, zu versteckten Orten.« Ich hielt die Luft an.

      »Und sie widersprechen dir nicht.« Lena drehte sich um. Sie hatte große