Was für ihn eine große Frage war, und vielleicht sollte er seine Forschungen darauf ausrichten, war, warum es nicht üblich erschien, den Körperbau einer Person allgemein zu "verdinglichen". Man tat das ja nur bei Extremwerten: "breit wie ein Schrank", "dürr wie ein Stecken", "schlank wie eine Gerte", "fett wie eine Sau". Wo blieben denn all die anderen möglichen Körperbeschreibungen? Und er sah auch die Möglichkeit, sich im elitären Kreis der Forscher des Althochdeutschen zu profilieren. Er würde das allerorten eingeführte "verdinglichen" mit seiner Variante substanziell verbessern. "Verbrauchsvergegenständlichen" empfand er als griffiger, besser beschreibend. Er hatte lange mit sich gerungen aber dann entschieden, dass er seine damals für Henriette gefundene Bezeichnung als Example in die Fachdiskussion einführen würde. Ein Kasten, eine Kiste, ein Karton, warum sollte das nicht geeignet sein, körperliche Merkmale zu beschreiben. Er war mit diesem Thema noch nicht ganz durch und schaute auf den Fernseher. Es war ein Panasonic Röhrenfernseher, denn er kürzlich erst bei Ebay für 20 Euro geschossen hatte.
"Ich finde den Klaus Klepper süß" erklärte Henriette "der erklärt einem die ganzen Sachen so, dass man gar nicht mehr drüber nachdenken muss. Der kuck zwar immer so böse, wenn er von den Feinden der Demokratie spricht, aber der hat's sicher auch nicht leicht."
"Dieser Klepper ist sicher kein Feind der Demokratie, aber einer der deutschen Sprache. Und deswegen bekommt er von mir null Punkte."
"Wie meinst du das?"
"Ist dir vielleicht schon mal aufgefallen, dass dieser Herr, wenn er von Männern und Frauen spricht, irgendwie ins Stottern gerät?"
"Nicht richtig."
"Na gut. Dieser Klepper verwendet den sogenannten Glottischlag, auch als Knacklaut bekannt. Er will damit Wörter oder Silben trennen."
"Ist das schlimm?"
"Das kommt darauf an, wie man das sieht. Ich als Germanist lehne das vehement ab."
"Das verstehe ich nicht."
"Ich gebe dir ein Beispiel. Ich sage zu dir, du bist eine Bürgerin. Ich bin ein Bürger. Deine Bezeichnung ist weiblich, meine männlich. Wenn der Klepper Bürger sagt, jetzt kommt der Schlag und die Sprechpause, und danach innen sagt, klingt das ja wie Bürgerinnen. Oder?"
"Ja."
"Ich bin aber keine Bürgerin, sondern ein Bürger."
"Aber Klaus-Rüdiger, ist das schlimm?"
"Vielleicht nicht, aber es vergewaltigt die Sprache."
"Vergewaltigen" lachte Henriette anzüglich "wie wäre es denn mal wieder?"
"Ach weißt du, ich hatte nur Stress auf Arbeit und ich bin richtig kaputt. Ich bin da an einer ganz großen wissenschaftlichen Sache dran, und gehe jetzt lieber ins Bett. Morgen früh ruft die Pflicht wieder. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich in den Seilen hänge, im Hamsterrad eingesperrt bin. Ich geh dann mal lieber."
"Na gut, ich kuck noch n bisschen "Süße Haustiere in China."
Zweiter Anlauf zum E-Auto-Kauf
Frank Krause hatte den Schock aufgrund seines Besuches im Autohaus bei Auwi mittlerweile überwunden. Dazu hatte vor allem sein sensationeller Erfolg der Darstellung des Führers Adolf Hitler am hauptstädtischen Theater beigetragen. Immer, wenn viel Prominenz im Theater saß, lief Krause zur Höchstform auf. Er hatte sich so tief mit der Rolle identifiziert (weil er wusste, wenn er Hitler so gab, wie von der Staatsführung erwünscht, könnte er noch weiter in der Riege der Staatsschauspieler aufsteigen), dass er sich öfter einmal prüfend an den Sack faste, ob darin noch zwei Eier wären. Gerüchte besagten, dass Hitler 1916 bei der Schlacht an der Somme einen Hoden eingebüßt hätte. Das war zwar nur ein Detail, aber für Krause als Künstler keineswegs vernachlässigbar. Er wollte den Diktator in allen Facetten darstellen. Anhand des fehlenden Hoden wollte er die innerliche Zerrissenheit von Hitler zeigen, der vermutlich durch das verlorengegangene Ei Minderwertigkeitskomplexe entwickelt, und deswegen einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen hatte. Auf der anderen Seite gab der Führer ja gern den großen Zampano, dem keiner das Wasser reichen konnte. Krause hatte viele Stunden damit verbracht darüber nachzudenken, wie er sich denn fühlen würde, wenn in seinem Sack die Hälfte des Inhalts fehlen würde. Mental höchstwahrscheinlich nicht gut, anatomisch vermutlich nicht groß anders. Jedenfalls war er zu dem Entschluss gekommen, die Rolle des Führers als ein ständig an sich selbst zweifelndem und mit dem Schicksal hadernden Menschen anzulegen. Die ganze perfide Bösartigkeit Hitlers wollte er mit einem deutlichen darstellerischen Fingerzeig klarmachen: in Phasen der Unsicherheit, des Stresses, der Verzweiflung, würde er sich mit der rechten Hand immer wieder ans Gemächt fassen und am Sack kratzen. Krause hatte einen Sinn für Symbolik. Eine nach unten gerichtete rechte Hand, die den Sack immer wieder abtastete (um das Verlusterlebnis kompensieren zu können), würde eine innerliche Kapitulation bedeuten, da der hochgerissene rechte Arm ja eigentlich dem Hitlergruß vorbehalten war. So wie noch nie, hatte sich Krause in eine Rolle hineinbegeben, nein: er war auf der Bühne der dämonische Hitler selbst.
Als er zur Premierenvorstellung gefahren war hatte er im Autoradio einen Beitrag eines gewissen "Hubert Heil" gehört, der ganz offensichtlich eventuell nicht ganz arbeitsfähige Menschen in eine Beschäftigung zwingen wollte. Krause war ja in politischen Dingen sehr vorsichtig, aber dieser "Hubert Heil" war scheinbar nicht weit weg von der Anwendung von Methoden, die zu Hitlers Zeiten üblich gewesen waren. Das konnte er nicht gutheißen. Entsprechend kämpferisch war er in den Auftritt gegangen und die Vorstellung war seine bisherige Sternstunde am Theater gewesen. Dass er in der letzten Szene statt "Heil Hitler" "Heil Hubert" gerufen hatte, war nicht aufgefallen, weil der Schlussapplaus alles zugedeckt hatte.
Nach diesem Triumph konnte er wählerisch sein.
Aber er wollte eben auch sein Engagement für das Klima in die Öffentlichkeit tragen.
Er sprach mit seiner Frau Gisela, ob sie ihn nicht zu einem Autohaus begleiten könnte.
"Wenn ich dir helfen kann, warum nicht" hatte sie gesagt.
Nach dem Desaster bei Auwi hatte er sich nochmals über andere Anbieter informiert, und war doch bei V-R fündig geworden. Was diese Leute versprachen, war sensationell. Ein klein bisschen Skepsis hatte er doch, er konnte sich noch an diese Abgasgeschichte erinnern. Aber eventuell hatten die Typen etwas aus dieser Katastrophe gelernt.
"Natürlich stehen wir bei Volks-Rasen für höchste Transparenz" hatte der Verkäufer erklärt "unsere Unternehmenskommunikation ist offen und ehrlich, wir wollen ja den Customer mit ins Boot holen."
"Den was" fragte Frank Krause verwirrt "warum mit ins Boot, ich will ein Elektroauto kaufen und keine Yacht."
"Nun, das war sinnbildlich gemeint. Sich aufs Meer zu wagen hat immer mit Abenteuer und Entdeckerdrang zu tun und kann gefährlich werden, fordert also den ganzen Mann heraus. Da muss man sich bewähren, Mut zeigen, vorangehen, darf nicht zaghaft sein. So wie wir bei Volks-Rasen, die die Hochtechnologie in unserer Branche vorantreiben."
"Jetzt hören Sie mir mal zu junger Mann" schaltete sich Gisela Krause ein "ihre machohafte Werbeprosa können Sie stecken lassen. Durch ihre Sprüche diskriminieren Sie eine enorm große Bevölkerungsgruppe. Wissen Sie, wen ich damit meine?"
"Die Afrikaner?"
"Wieso die Neger" wunderte sich Frank Krause, überlegte einen Moment und sagte dann:
"Doch, Sie haben recht. Afrika platzt doch aus allen Nähten, weil die dort wie die Karnickel schnackseln. Wenn die alle hierher kommen ist endgültig Schicht im Schacht. Ich hab mal gehört, dass die jetzt 1,3 Milliarden sind. Und es werden jede Woche hunderttausend mehr. Wir hier sind so n bisschen mehr als 80 Millionen. Und Strom haben die vielleicht auch nicht so viel. Und solche Stromtankstellen."
"Ladestationen."
"Ach ja, stimmt. Kann ich auch noch Benzin tanken?"
"Nur mit einem Hybriden."