Rogers Herz klopfte schneller, als er ihre Gestalt im Spiegel erfasste. Zweifellos. Sie war es!
„Frohe Weihnachten“, hörte er Emma mit dieser Stimme sagen, die ihm unter die Haut ging. Sie war wie Samt und hatte eine ganz eigene Klangfarbe.
Emmas Gruß wurde allgemein erwidert und Roger bemerkte, dass sie unschlüssig dastand. Beinahe hilflos und auf berührende Weise eingeschüchtert. Ob er sich zu erkennen geben sollte? Damit ihre verzweifelte Suche ein Ende hatte? Aber vor allen Leuten? Die wären imstande und würden auf sie einreden, bis sie St. Agnes postwendend verließ.
„Sie sehen so aus, als würden sie jemand suchen“, drang Minnies freundliche Stimme an sein Ohr, deren feines Näschen für die Wahrheit manchmal verblüffend war. Natürlich suchte Emma jemanden - nämlich ihn! „Können wir Ihnen helfen?“
„Vielleicht“, erwiderte Emma. Roger fragte sich, wie sie ihn beschreiben würde. Als gutaussehend? Männlich? Extrem attraktiv? Wahnsinnig nett? „Ich war vorhin beim Tourismus-Büro. Es ist geschlossen und man schickte mich hierher. Befindet sich eine gewisse Josie Mason unter Ihnen?“
„Ich bin Josie Mason. Worum geht es?“
Wie still es war. Fast so, als wäre Jesus soeben auf einen Kaffee hereingekommen.
Amber servierte Roger den Cappuccino und hätte ihn beinahe neben den Tresen auf Luft gestellt, weil sie die Fremde nicht aus den Augen ließ. Zugegeben, Emma hatte auch bei Tageslicht etwas, dem man sich nicht entziehen konnte. Obwohl ihre rehbraunen Augen trauriger wirkten als zuletzt. Hatte sich ihr Arsch von Mann etwa noch mehr geleistet als ohnehin?
„Ich suche eine Unterkunft“, ließ Emma verlauten.
„Für wie lange?“, erkundigte sich Josie.
Emma zuckte mit den Achseln. „Das kann ich nicht sagen.“ Richtig so! Nur nicht zu viel verraten. Wie hätte sie auch ahnen können, dass das Glück näher war, als sie dachte? Viel näher. Genau genommen saß es an der Bar. „Hätten Sie etwas für mich, Mrs. Mason?“
„Nenn mich Josie“, bot Annies Freundin an. „St. Agnes ist eine große Familie.“
Das wüsste er aber!
„Danke.“ Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich bin Emma Sinclair.“
„Schön, Emma. Wie anspruchsvoll bist du?“
„Ich brauche nicht viel.“
„Kein Internet? Oder einen Fernseher im Zimmer?“ Emma schüttelte den Kopf. „Dass sich die Toilette und die Dusche auf dem Gang befinden, ist ebenfalls kein Problem?“ Das klang ganz nach Doris’ Pension. Josie hielt tatsächlich Wort. „Die Unterkunft ist nicht der letzte Schrei, die Lage jedoch traumhaft.“
„Wie man es nimmt“, mischte sich Minnie ein, die mit gerunzelter Stirn Rogers Blick im Spiegel suchte. „Sind Sie alleine gekommen, Emma? Oder gibt es jemand an Ihrer Seite, der ebenfalls ein Plätzchen bräuchte?“
„Ja, Reddy. Für ihn bräuchte ich auch eins.“
Zufrieden lächelnd zog sich Minnie das Handtuch mit Schottenmuster von der Schulter und zeigte sich im neonpinken Bikini. Schien die neueste Modefarbe zu sein. Allerdings interessierte das Roger im Augenblick am wenigsten. Wer verdammt war Reddy?
Enttäuschung erfasste ihn. Hatte er sich geirrt? War es bloß ein dummer Zufall, dass Emma hier war? Um mit ihrer neuen Flamme Urlaub zu machen? Vor seinen Augen?
Roger zog die Geldtasche aus seiner Jeans und legte ein paar Münzen neben die Tasse. Es war besser, wenn er verschwand.
„Setz dich zu uns, Emma. Dann zeichne ich euch den Weg zu Doris Mitchells Pension auf. Oder soll ich euch hin lotsen? Seid ihr mit dem Auto da?“
Emma wirkte leicht irritiert. „Ja, so ist es. Und danke für das Angebot. Aber Reddy und ich haben bisher überall hingefunden.“
Reddy und ich!
Emma setzte sich zu Josie. Roger starrte auf ihren Rücken. Was war er bloß für ein Idiot! Auch im wahren Leben war es manchmal wie im Internet. Man konnte lügen wie gedruckt oder nur die halbe Wahrheit erzählen. Vermutlich hatte sie ebenfalls einen Lover gehabt und dieser Brandon war der Leidtragende in der ganzen Sache. Von wegen unschuldig. Diese Frau hatte es faustdick hinter den Ohren!
Emma erhaschte gerade noch einen Blick auf den Mann, der beinahe fluchtartig das Lokal verließ. Dabei erfasste sie ein eigentümliches Gefühl, weil er dieselbe Frisur trug wie der Unbekannte in London. Klopfte ihr Herz deswegen so schnell? Oder lag es an der Aufregung und ihrer Angst vor der eigenen Courage? Es hatte sie immense Überwindung gekostet, alleine das Lokal zu betreten, in dem so viele fremde Menschen saßen. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sich ihr Vater unter ihnen befand.
„Emma?“, rief sich Josie in ihr Gedächtnis zurück. „Roger Sanders mag zwar gut aussehen, aber der ist nichts für dich. Außerdem hast du ja deinen Reddy, nicht wahr?“
„Wer ist Roger Sanders?“ Emma löste ihren Blick von der Tür.
„Der Mann, dem du nachgestarrt hast wie einer Erscheinung. Sicher, er sieht gut aus, doch wenn Sanders eine Frau wäre, würde man ihn als Flittchen bezeichnen. Der Typ hat mehr Herzen gebrochen, als wir Einwohner haben. Sei also auf der Hut. Ob vergeben oder nicht, der brät jede an.“
„Ach so“, erwiderte Emma. „Keine Sorge, von Männern habe ich die Nase gründlich voll.“ Wieso hörte ihr Herz nicht damit auf, wie verrückt gegen die Brust zu hämmern? Bloß, weil dieser Sanders dem Unbekannten ähnlich sah? Dabei hatte sie andere Probleme.
„Oh je“, bedauerte Josie. „Habt ihr gestritten?“
„Wer?“ Emma erwiderte das Lächeln der älteren Frau, die sich in ihr Badetuch mit dem Schottenmuster hüllte. Sie wirkte sehr nett. Wie alle hier, die munter miteinander plauderten und gemeinsam lachten.
„Na, du und Reddy.“ Josie schien sich zu fragen, ob Emma eins und eins zusammenzählen konnte. „Du hast gesagt, dass du von Männern die Schnauze voll hast. Das kann nur bedeuten, dass ihr Streit habt. Also kein Doppelzimmer? Zumindest vorerst? Andererseits ist heute Weihnachten. Die Zeit der Versöhnung. Ihr solltet essen gehen. Wir haben tolle Lokale in St. Agnes. Ich könnte Reddy ein paar Tipps für einen romantischen Abend geben. Wo ist dein Freund eigentlich?“
Plötzlich musste Emma schmunzeln. Josie hatte sie gründlich missverstanden. „Reddy geht ungern in Lokale und ehrlich gesagt ist es mir ganz recht, wenn er draußen wartet. Würde ich ihn mitnehmen, wäre im Nu die Polizei da.“
Josie musterte sie wie eine Sphinx. Oder so, als säße sie vor einem spannenden Thriller. „Wird er per Haftbefehl gesucht?“ Verschwörerisch beugte sie sich näher. Genau wie ihre Freundin. „Taucht ihr in St. Agnes unter? Gut, wir sind ein ziemlich verschwiegener Haufen, aber ehrliche Leute. Könnte schwierig werden für euch. Auf der anderen Seite wärt ihr bei Doris gut aufgehoben. Zumindest für die nächsten Tage. Ihr Haus liegt ziemlich einsam.“
„Hat sie einen Parkplatz?“ Emma hatte Mühe, nicht laut loszulachen.
„Wegen dem Fluchtauto?“ Josie starrte sie mit großen Augen an.
„Nein, für Reddy“, konnte Emma nicht mehr länger die Unwissende spielen. „So heißt nämlich mein VW-Käfer.“
Mit verengten Augen starrte Josie sie an. Man sah förmlich, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, bis sie auf einmal zu lachen begann. Schallend wie ihre Freundin. „Das ist ja …“, stammelte sie prustend und wischte sich die Tränen weg, „ein Käfer!“
Auch Emma lachte mit, bis ihr selbst