„Frag das deine Tochter“, blieb Emma ruhig. Er konnte sie nicht mehr verletzen. Nie mehr. Weil er nicht ihr Vater war. Nur Ben. „Wie so oft ist die Wahrheit eine völlig andere. Du hinterfragst sie nicht. Das hast du nie getan. Deswegen bin ich heilfroh, dass ich nicht deine Tochter bin.“ Ihre Mom zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Es lag auf der Hand, dass sie lieber weitergemacht hätte wie bisher. Den Gefallen konnte Emma ihr nicht tun. „Sonst wäre ich vermutlich so wie Tiff.“
„Sie weiß es?“, brüllte Ben mit puterrotem Gesicht. Emmas Mom nickte unter Tränen. „Was haben wir vereinbart, Claire? Ich akzeptiere deinen Bastard, aber …“
Bastard!
Emma konnte seinen Anblick nicht länger ertragen. Darum drehte sie sich um und ging. Sie merkten es nicht einmal, sondern stritten weiter. Den Sinn der Worte verstand sie nicht, hörte nur ihren feindseligen Ton. Zwei Menschen, die viel zu lange geschwiegen hatten. Die weiter schweigen würden. Deswegen musste sie sich eigenhändig auf die Suche nach ihrem Dad begeben und sie würde ihn finden. Koste es, was es wolle!
Emma schluckte ihre Tränen hinunter, doch als Grant ihr mit besorgter Miene entgegenkam, warf sie sich an seine Brust und weinte bitterlich. Bastard! Es stimmte nicht ganz. Ben konnte sie sehr wohl verletzen.
„Und wenn du mich noch zehnmal fragst, ich will nicht mit dir zur Bucht hinunter“, wimmelte Roger Doris ab und verkniff sich ein Lachen. Mit einem pinkfarbenen Neoprenanzug und einer Schwimmhaube in derselben Farbe stand sie vor ihm. Fehlte nur ein Surfbrett unter den Achseln.
„Wieso nicht?“ Sie blinzelte gegen die Sonne an, die über die Kälte hinwegtäuschte. Zwar fehlte wie üblich der Schnee, doch winterliche Temperaturen hatten sie auch hier, obwohl sie nie unter den Gefrierpunkt fielen. Die fünf, sechs Grad fühlten sich trotzdem so an. „Ganz St. Agnes trifft sich am Strand. Nur du glänzt erneut mit Abwesenheit.“
„Weil mir nichts an Weihnachten liegt. Schon vergessen?“
„Wie könnte ich?“, höhnte Doris und rollte mit den Augen. „Ich brauche nur rüber zu schauen auf das Elend, das du dein Zuhause nennst.“
„Hast du so viel Zeit, um dir ständig mein Cottage anzusehen? Ich dachte, du könntest dich vor Gästen kaum retten“, stellte er sie auf die Probe. „Komisch, dass nie ein Auto zu sehen ist.“
„Meistens kehren Rucksacktouristen bei mir ein“, behauptete sie und wirkte nicht anders als zuvor. Entweder war sie die beste Lügnerin aller Zeiten oder wurde dement und glaubte selbst daran. „Die haben keine großen Ansprüche und zahlen bar.“
„Aha.“ Mehr fiel Roger nicht mehr dazu ein.
„Tja, ich muss los“, wurde Doris hektisch. „Und was machst du heute am Heiligen Abend? Fährst du zu deinen Eltern?“
„Da war ich bereits. In aller Früh.“ Genauer gesagt um halb sieben. Da keiner aufmachte, hinterließ er einen Zettel. Im Wissen, dass seine Eltern zu den Langschläfern gehörten. Aber die gute Absicht zählte. Sein Soll hatte er somit erfüllt und war dem jährlichen Dilemma durch diese kleine List erfolgreich ausgewichen. „Gegen Abend brutzelt ein saftiges Hähnchen in meinem Backofen, das ich mir mit einem guten Glas Wein schmecken lassen werde.“
„Das ist alles?“, mokierte sie sich. „Keine Gäste? Oder ein Besuch in den Lokalen?“
„Ich bin müde und werde früh schlafen gehen.“
„Irgendjemand von der NASA muss dich vertauscht haben. Das ist kaum auszuhalten. Allmählich wirst du vereinsamen.“
„Die Gefahr besteht mit Sicherheit nicht. Ich möchte nur mein Leben ordnen und genüge mir momentan selbst.“ Diesen Satz hatte er gestern in einer Liebesschnulze aufgeschnappt.
„Jesus Maria, vom Casanova zum Papst! Wie ich sagte: Die NASA ist schuld. Die müssen irgendein schlimmes Experiment mit dir durchgeführt haben. Aber dem kann Abhilfe geschaffen werden. Wann soll ich zum Essen bei dir sein?“
Jetzt wurde Roger einiges klar! Doris hatte die ganze Zeit auf seine Einladung gewartet, weil sie ebenfalls niemanden hatte, mit dem sie feiern konnte. Außer den Hunderten von Verrückten, die in Neoprenanzügen oder hartgesotten mit Badekleidung in der Trevaunance Bucht in die Fluten sprangen. Roger hatte keine Ahnung, warum sie das taten, doch seit Jahrzehnten gehörte dieses gemeinsame Schwimmen am Morgen des Heiligen Abend zu St. Agnes wie das Meer. „Um sechs würde es mir passen.“
„Ich werde sehen, ob ich es einrichten kann“, meinte sie allen Ernstes, als hätte sie sich nicht gerade selbst eingeladen. „Bis dann, Kleiner.“ Mit der Langsamkeit einer alten Frau - die trotz Neopren nicht auf die hohen Schuhe verzichtete - zitterte sie sich zu ihrem Grundstück hinüber. Lächelnd blickte Roger ihr nach, bis sie kurz danach auf ihrem alten Mofa an ihm vorbeirauschte. Diese Frau war wirklich ein Unikum.
Noch immer lächelnd schloss er die Pforte und setzte sich ins Wohnzimmer. Ein Fußballspiel flimmerte über den Bildschirm. Es war eine Wiederholung. Das eigentliche Spiel interessierte ihn wenig, die isländische Mannschaft dafür umso mehr. Nun wusste er wenigstens, wer dieser Rúrik Gíslason war. Geschmack hatte Emma, das musste er ihr lassen. Außerdem schmeichelte es ihm, dass sie ihn mit diesem Mann verglichen hatte. Ohne zu ahnen, dass auch er tätowiert war. Die Muskeln waren zwar weniger geworden, seitdem er nicht mehr regelmäßig trainierte, doch das würde Emma nie feststellen können.
Abwesend schaute er zur Sektflasche auf dem Tisch. Mittlerweile diente sie als Deko-Objekt. Damit hatte er Emma jedoch ständig vor Augen und in den letzten Tagen fragte er sich des Öfteren, ob er nach ihr suchen sollte. Ganz unverbindlich. Nur um zu sehen, ob es ihr besser ging.
„Du Narr!“, schimpfte er sich selbst. Womöglich würde er vor ihr stehen und sich fragen, wieso er sie geküsst hatte. Der Zauber dieser Nacht war eine Sache, am Tag hätte vermutlich alles anders ausgesehen. Deshalb war es besser, Emma zu vergessen. Menschen idealisierten vieles, wenn sie einsam waren.
Entschlossen schaltete Roger den Fernseher aus, schnappte sich die Jeansjacke vom Garderobenhaken und verließ das Haus. Nicht, dass er tatsächlich zum Einsiedler mutierte. Darum wollte er ins Aloha, das über die Feiertage offen hatte.
Eine Stunde später bereute Roger seine Entscheidung zutiefst, weil das anfangs wohltuend verwaiste Aloha mit der Zeit aus allen Nähten platzte. Halb St. Agnes schien sich im Lokal aufzuwärmen. Unter ihnen Minnie und Duncan, die mit Joseph und Rose in Badetücher gehüllt an einem der Tische saßen. Alle sahen geflissentlich über ihn hinweg. Wie Josie, die mit Sally den Nebentisch besetzte. Zumindest Letztere hatte ihn beim Reinkommen gegrüßt. Immerhin gehörte er zu ihrer besten Kundschaft und tauchte regelmäßig in ihrem Tätowier-Studio auf.
Roger, der an der Bar saß, spürte förmlich die vielen bohrenden Blicke auf seinem Rücken. Natürlich hätte er gehen können. Allerdings war er vor allen anderen da gewesen!
„Möchtest du noch etwas trinken?“, fragte Amber und arrangierte die mit Engelshaar verzierten Tannenzweige in der veilchenblauen Vase schräg vor ihm neu. Auf den Tischen standen Weihnachtssterne, deren Blüten mit Glitzer bestreut waren. Von der Decke baumelten goldene Sterne und pausbäckige Engel mit Trompeten oder Harfen in den pummeligen Händen. Eine Weihnachtskrippe stand am Ende der Bar. Wieso liebte die halbe Welt dieses Fest? Das würde er nie verstehen.
„Noch einen Cappuccino, bitte.“
Amber lächelte. „Deine Bestellung kommt sofort.“ Sie huschte zur Kaffeemaschine. Wenigstens eine, die ihn nicht am liebsten erdolchen würde. Sicher auch, weil sie nie etwas miteinander gehabt hatten. Allerdings hätte sie sich wie die anderen solidarisch mit Annie zeigen können. Oder lag es an ihrer Professionalität, Geschäftliches von Privatem zu trennen? Wie auch immer, Roger versuchte sich zu entspannen und blickte vom Spiegel hinter der Bar zur Pinnwand, die sich daneben befand. Bunte Postkarten waren mit Stecknadeln darauf fixiert. Einige Karten stammten aus Mallorca. Vermutlich von Lance