Besonders schön war der Park im Frühjahr. Kirschbäume verzauberten die Alleen mit ihren zarten Blüten, die wie ein Dach die Wege beschatteten. Im Sommer blühte es ringsum. Am Serpentine Lake konnte man schwimmen oder rudern. Es gab die Gelegenheit zum Bowlen und den Park mit dem Rad zu erkunden. Vom Rosengarten bis zum Green Park, wo sie oft in der Nähe des Triumphbogens gesessen hatte, um ein Buch zu lesen.
„Wo treffen wir uns eigentlich mit Linda?“, wollte Emma wissen. Grant hatte ihre Freundin vorhin angerufen, während sie Reddy volltankte. Linda versprach nachzukommen. Ein oder zwei Stunden würde sie sich angeblich freischaufeln können. „Beim Café?“ Sie näherten sich dem Speakers Corner. Hier konnte jeder nach Lust und Laune eine öffentliche Rede halten. Egal, über welches Thema. Nur die königliche Familie durfte nicht erwähnt werden. Manchmal waren die Bänke des Cafés und auf dem Gelände bis zum Bersten besetzt. Jeder konnte zuhören oder gegebenenfalls mitdiskutieren. Nicht selten artete es in Streit aus.
Plötzlich stutzte Emma, weil ihr Blick auf eine Frau fiel, die unweit des Cafés unter einem Baum saß. „Das ist ja Mom“, murmelte sie. „Was für ein Zufall.“
„Es ist keiner. In Wahrheit habe ich sie angerufen. Nicht Linda.“ Grant blieb stehen.
„Was soll das?“, wurde Emma sauer.
Sanft umfing Grant sie an den Schultern. „Da ich ahnte, dass du nach der Sache mit Tiff erst recht zögern würdest, habe ich mich dazu entschlossen, dir auf die Sprünge zu helfen. Bis deine Eltern aus der Karibik zurückkommen, wärst du ein Nervenbündel.“
„Das ist nicht in Ordnung, Grant!“
„Mag sein. Nur musst du dich irgendwann sowieso stellen. Wieso nicht jetzt gleich?“ Er ließ sie los. „Ich warte in einiger Entfernung auf dich. Viel Glück.“
Emma blickte ihm grimmig hinterher, bevor sie sich zögernd in Bewegung setzte und ihre Mom in Augenschein nahm, die vor sich hinstarrte. Erst als sie sie beinahe erreicht hatte, hob die Mutter den Kopf. Mit einer Mischung aus Unnahbarkeit und Angst schaute sie ihr entgegen. Doch da lag noch etwas anderes in ihren grün-braunen Augen, das Emma nicht deuten konnte.
„Du wolltest mich sprechen?“, wurde sie kühl von ihrer Mom empfangen, die dennoch zur Seite rückte. Emma ließ sich neben ihr nieder und blickte zum menschenleeren Café. Über ihnen fing das dichte Zweigwerk die Schneeflocken auf. Hin und wieder stahl sich eine hindurch und schwebte wie eine Feder auf sie herunter.
„Grant hat das eingefädelt“, fühlte sich Emma in Erklärungsnot und spürte die kalte Bank trotz ihres warmen Mantels. „Er findet, dass wir reden sollten.“
„Bist du derselben Meinung? Wenn ja, mach es kurz. Dein Vater holt mich gleich ab.“ Der Wind strich über ihren weißen Pelzmantel, der ihre Blässe unterstrich wie die dazu passende Kappe. Im begehbaren Kleiderschrank ihrer Mom fanden sich viele solcher Mäntel und Hauben, die sie zu allem Überfluss mit Stolz trug. Sogar der Umstand, dass zwei Jahre zuvor eine Tierschutzaktivistin vor dem Royal Opera House auf sie losgegangen war, trübte ihre Kauffreude in keiner Weise. „Wir wollen in eine Fotoausstellung“, fuhr die Mutter fort, „Sie zeigen Bilder aus Cornwall und Schottland.
„Cornwall?“ Als wäre es ein Wink mit dem Zaunpfahl! „Ist St. Agnes auch dabei?“, platzte es aus Emma heraus, die ihre Mutter nicht aus den Augen ließ. Um keine Regung zu verpassen. Keine Geste.
„St. Agnes? Was soll das sein? Ein Krankenhaus?“ Sie wich Emmas Blick aus und strich sich fahrig über die Spitzen des dunklen schulterlangen Haares, das sie seit Jahren färbte. Dennoch zeigten sich graue Strähnen. Ihr letzter Friseurbesuch musste eine Weile her sein.
„Wir wissen beide, dass ich das Küstendorf gemeint habe, Mom.“ Unweit von ihnen hopste ein Spatz herum und machte keine Anstalten wegzufliegen. Die Vögel und Eichhörnchen fraßen den Parkbesuchern buchstäblich aus der Hand. Wider jede Natur, so süß der Anblick und diese Zutraulichkeit auch waren.
„Du sprichst in Rätseln“, wurde ihre Mutter unwirsch und kratzte sich an der schmalen Nase. „War’s das?“
„Verdammt, Mutter!“ Emma wurde von der plötzlichen Verzweiflung übermannt, dass sie womöglich nie die Wahrheit erfahren würde. Aber sie hatte ein Recht darauf! „Ist Ben mein leiblicher Vater?“
Ihr Lachen wirkte affektiert. „Wer sollte es sonst sein? Womit dieses lächerliche Gespräch beendet ist.“ Ehe Emma sie zurückhalten konnte, stand sie auf und eilte davon. „Es war ein Fehler herzukommen“, rief sie über die Schulter. „Aus deinem Mund ist nie etwas Sinnvolles gekommen.“
„Aber aus deinem oder was?“, wurde Emma ebenfalls laut und lief ihr nach. Als sie auf gleicher Höhe waren, hielt sie ihre Mutter am Arm zurück, in deren Augen Tränen schwammen. Sofort war Emmas Zorn wie weggewischt, die ihre Mom losließ, obwohl sie sich am liebsten an sie geklammert hätte. Wusste der Teufel wieso. „Ich bitte dich inständig“, verlegte sich Emma aufs Betteln, „gib mir eine Antwort. Bin ich das Kind eines anderen?“
„Ich wollte nie, dass du es erfährst“, gestand ihre Mutter plötzlich mit bebender Stimme. Schneeflocken vermischten sich mit ihren Tränen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie weitersprach: „Weil ich nicht stolz darauf bin, Ben betrogen zu haben. Doch ich kam nicht gegen meine Gefühle an. Er war meine erste große Liebe, bis sich unsere Wege trennten. Dann heiratete ich Ben. Wir bekamen Tiffany und als ich eine schlimme Lungenentzündung hatte, riet mir der Arzt dazu, ans Meer zu fahren. Ich entschied mich für St. Agnes und verbrachte einen Monat dort. Im Wissen, dass ich deinen … Vater vermutlich wiedertreffen würde, da er aus diesem Ort stammt.“ Ihre Miene wurde frostig. „Schließlich erfuhr ich, dass ich schwanger bin. Ben tobte natürlich.“
„Was man ihm nicht verübeln kann“, stellte sich Emma zum ersten Mal auf seine Seite. „Hast du meinen Dad bei der Zinn-Mine getroffen?“
„Das Lesezeichen hat mich zu spät erreicht“, presste sie hervor. „Wie das Buch.“
„Dornenvögel“, kombinierte Emma.
„So ist es. Im Buch wird eine aussichtslose Liebe beschrieben, wie es die unsere war. Aus vielerlei Gründen. Mitsamt der Tatsache, dass wir beide gebunden waren.“ Sie schaute gedankenverloren an Emma vorbei. „Nie wieder habe ich etwas von ihm gehört. Ich will es auch nicht, denn es würde alles an die Oberfläche zerren. Für Ben war es schwierig genug.“
„Nicht nur für ihn, Mom.“
Sie senkte den Blick. „Ich weiß, Emma. Es tut mir leid, dass du das ausbaden musstest. Aber jedes Mal, wenn ich dich ansehe, habe ich ihn vor Augen. Ben geht es vermutlich ähnlich, obwohl wir das Thema bis heute totgeschwiegen haben.“
„Wie heißt mein … Vater?“
Ein flehender Blick richtete sich auf sie. „Lass die Vergangenheit ruhen, Emma. Ich bitte dich von ganzem Herzen.“
„Wie kannst du das von mir verlangen?“, zürnte Emma ihr. „Ist dir eigentlich bewusst, was das für mich bedeutet? Ihr habt mich jahrelang angelogen und mir die Wahrheit vorenthalten. Nun sei wenigstens so fair und nenne mir den Namen meines Vaters!“
„Hast du nicht zugehört?“, geriet ihre Mom außer sich. „Ich möchte es nicht!“
„Was ist hier los?“ Mit zorniger Miene stapfte plötzlich Emmas Dad … Ben … auf sie zu. „Regst du deine Mutter schon wieder auf?“ Als er sich drohend vor Emma aufbaute, richtete er sich die obligatorische Melone, unter der sein dichtes rattengraues Haar hervorquoll. Der exklusive Mohair-Mantel wölbte sich über seinem stattlichen Bauch. Auf den edlen Schuhen glänzten Tropfen und einige abgebrochene Grashalme klebten daran. Unweigerlich musste Emma an die Eiche denken. An ihre Träume. An die vielen Entbehrungen. Sollte ihr erneut alles versagt werden? Etwas, das ihr zustand wie nichts auf der Welt? „Du scheinst in letzter Zeit nicht ganz bei dir zu sein“, ließ Ben seinen Unmut an Emma aus. „Tiffany hat mich angerufen. Hätte sie