Papierrolle und Gedankenskateboard. Robert Mirco Tollkien. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Mirco Tollkien
Издательство: Bookwire
Серия: Ausgewählte Kurzgeschichten
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753180366
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hinab. Um seinem Hals saß ein Strick. Der arme, reiche Sohn war durch Freitod aus diesem Leben geschieden.

      Mir fiel in den Tagen und Wochen danach die besondere Kühle seines Bruders auf, mit dem zusammen ich den örtlichen Schachverein angehörte. Er zeigte nicht den leisesten Hauch von Trauer und das Einzige, was er über den Verstorbenen sprach, waren folgende Worte zum Schatzmeister: „Sven wollte ja nicht aufhören mit diesen Chemodrogen. Die hat er aus der großen Stadt von seinem Studium mitgebracht und die haben ihn am Ende Verstand und Leben gekostet.“

      Er sprach diese Worte in strenger Kälte und ohne jede Form von Empathie aus.

      Kapitel 2

      Wir schrieben einen gnadenlosen Sommer. Gleich einer glühenden Glocke lag die Hitze über dem Land und der Regen des frühen Frühlings schien eine jahrhundertealte Legende zu sein.

      In der beschaulichen Fußgängerzone saßen Einheimische und Touristen an den Tischen der Kneipen, Cafes und Restaurants, welche die Gastronomen unter freiem Himmel aufgestellt hatten.

      An einem dieser Tische traf ich Martin Zimmer. Zimmer war ein guter Klassenkamerad während der Grundschulzeit gewesen und bis zu meinem fünfunddreißigsten Lebensjahr hatten wir zusammen im Altherrenverein unseres Heimatstadtteils Fußball gespielt. Heute und seit über zwanzig Jahren arbeitete er in der Kfz-Werkstatt seines Vaters, welche er mittlerweile alleine führte. Wenn wir uns über den Weg liefen, pflegten wir stets mehr als den üblichen Smalltalk miteinander zu führen. So geschah es auch heute. Ich wusste, dass Martin eine gute Freundschaft mit Sven Gellert verbunden hatte, und so kondolierte ich ihm, berichtete zusätzlich über die Kälte von Svens Bruder im örtlichen Schachverein und dessen Worte.

      Während Zimmer der Erzählung lauschte, nahm sein kantiges Gesicht immer wütendere Formen an.

      „Was erzählt dieser Unsympath da bloß für dreiste Lügengeschichten! Sven hat nie was Härteres als Gras zu sich genommen und auch das nur selten, weil ihm in der Regel von Tabakrauch schlecht wurde. Ich habe schon gemerkt, dass er plötzlich nervlich mehr als nur durch gewesen ist, dass er professionelle Hilfe braucht und das habe ich ihm auch ehrlich gesagt und dann hat er mir auch die Gründe für seinen traurigen Zustand genannt.“

      Empört klangen seine Worte und er hielt sich mit beiden Händen an seinem Weizenglas fest, als könne dieser Griff die Wut auf den kalten Bruder lindern.

      „Was hat er denn gesagt?“, fragte ich eher beiläufig und schaute auf das Display meines Smartphones.

      „Das ist eigentlich zu abgedreht, um wahr zu sein. Dennoch glaube ich, dass Sven es für wahr gehalten hat und auch deswegen durchgeknallt ist. Es hat aber nichts mit Drogen zu tun, sondern wahrscheinlich eher damit, dass die Familie Sven keine Liebe gegeben hat, weil er eben kein kaltes, raffgieriges Arschloch wie der Rest seiner Sippe ist! Das ganze jahrelange Runterputzen durch seine Eltern und den Bruder haben ihm den Verstand geraubt!“

      Nun sprach er leise und mehr zu seinem Bierglas wie zu mir. Doch gerade dadurch wurde mein Interesse geweckt, denn von Kindesbeinen an mochte ich abgedrehte Geschichten.

      „Dann sag` an! Ich mag abgedrehte Geschichten.“, lautete daher meine Forderung.

      „Weißt du noch, wie wir damals in dem alten Garten von Opa Schröder mit Knallern im Hochsommer geböllert haben und dadurch die Grill- und Partyhütte von Opa Schröder abgebrannt ist!“, stellte er mehr fest, als dass er fragte. „Wir haben uns damals das feierliche Han Solo-Ehrenwort gegeben, niemals mit einem anderen Menschen außer uns darüber zu reden. Bis heute weiß keine Seele, dass wir es gewesen sind. Wenn du mir auch diesmal dein Ehrenwort gibst, erzähl ich es dir. Aber: Es ist wirklich widerwärtig abgedreht!“

      Mein Interesse war nun gänzlich geweckt.

      „Ich gebe dir mein Han Solo-Ehrenwort, dass ich niemanden auch nur ein Sterbenswort verrate!“

      Meine Worte wählte ich nicht nur meiner Neugier wegen, sondern auch, weil es in der Luft greifbar war, dass es Martin verlangte, über den schrägen Sven zu reden, wahrscheinlich auch, um sich selbst ein wenig zu entlasten. Mit etwas neutraleren Leuten sprach es sich eben manchmal leichter als mit engen Freunden, Bekannten oder Verwandten.

      „Sven hat mir erzählt, dass seine Familie seit Jahrhunderten Mitglied einer seltsamen, geheimen Bruderschaft ist. Der Vater soll da sogar ein richtig hohes Tier sein, so eine Art Priester. Sven hat mir von unheimlichen Ritualen erzählt, die in versteckten Tempeln unter der Erde von seiner Familie und anderen Mitgliedern des uralten Geheimbundes abgehalten werden.“, berichtete Martin und blickte mal zu mir, mal gedankenverloren in die einbrechende Dämmerung der Fußgängerzone hinein.

      „Die Familie Gellert sind also allesamt Satanisten?“, fragte ich, der von dieser Thematik so überhaupt keine Ahnung hatte. Ich wusste nicht einmal richtig über das Christentum Bescheid, wusste nur, dass die Römer Jesus ans Kreuz geschlagen hatten und er danach irgendwann von den Toten auferstanden war. Aber all das lag lang, lang zurück, wenn es überhaupt jemals so stattgefunden hatte. Und einen Satan, der finster lächelnd in der Hölle unter der Erde hockte, gab es ganz sicher nicht. Menschen, die an solche Dinge glaubten, konnte man nur als Spinner bezeichnen. Ich nahm einen tiefen Schluck von meinem Bitburger.

      „Das hat sich für mich nicht so angehört. Sven hat erzählt, dass die so eine Kreatur aus Pyramidenstücken anbeten und dazu noch eine Art Felsen mit Tentakeln und Kugeln oder so am Körper. Ich glaube kaum, dass das der Satan ist. Und die Geschichte, die er mir erzählt hat, wurde immer schlimmer.“

      „Die haben diesen komischen Figuren Menschen und Tiere geopfert.“, spann ich Erzählung weiter, weil Martin zu seiner eckigen E-Zigarette griff und kurz darauf den gesamten Tisch in süßlichen Qualm hüllte.

      „Das auch. Die haben nicht nur Menschen diesen Monstern geopfert, sondern sie auch heraufbeschwört.“, fuhr Zimmer schließlich fort und drehte dabei den kleinen Verdampfer in der Hand. „Und von Kindesbeinen an musste Sven all das mit ansehen, weil das eben bei denen Familientradition ist. Sein Bruder geht auf diesen Zirkus wohl voll ab, aber Sven kam da niemals drauf klar. Deshalb hat er auch seit Jahren Antidepressiva und Stimmungsaufheller verschrieben bekommen. Sonst hätte er das schon lange nicht mehr ausgehalten und reden konnte er ja auch mit niemanden darüber.“

      Der Kellner kam und wir gaben eine neue Runde in Auftrag.

      „` ist schon ganz schön schräg. Der arme Kerl muss wirklich ganz schön durchgeknallt sein.“, merkte ich an. „Vielleicht haben all die Psychopharmaka auch ihren Teil zum Durchdrehen beigetragen.“

      „Pass auf, mein Bester! Das richtig Durchgeknallte an der Geschichte kommt erst noch. Sven hat mir erzählt, dass in einem geheimen, unterirdischen Labor sein Vater zusammen mit einem Wissenschaftler von einer anderen Welt, der wie eine menschliche Kakerlake ausgesehen hat, eine Kreatur erschaffen hat, deren Anblick alleine ausreicht, um einen normalen Menschen in den Wahnsinn zu treiben oder gar umzubringen. Der Mensch bekommt beim Anblick dieser Kreatur einen großen Angstanfall, so dass diese Angst den Menschen endlich tötet. Sven hat aber nur einen Knacks bekommen, weil er schreckliche Dinge von seiner Familie gewohnt ist. Nur wer wirklich durch und durch stark und innerlich verdorben ist, übersteht den Anblick dieser Kreatur schadlos. Deshalb haben die Gellerts es entwickelt; um die Starken von den Schwachen und die Bösen von den Guten zu trennen. Um die Guten und die Schwachen auszuschalten, damit das Böse auf Erden rasch die Macht übernehmen kann.“

      „Du meine Güte!“, rief ich es beinahe laut aus, als der Kellner kam, um Getränke zu servieren. „Da fällt einem echt nichts zu ein. Hat er dir auch gesagt, wo dieses Monstrum sich nun seine Zeit vertreibt?“

      Als der junge Mann mit geübter Geste das neue Bier auf der Tischplatte abstellte und die leeren Gläser von dort aufnahm, klirrten diese leicht aneinander. Rasch zog der Kellner wieder von dannen, das hohe Arbeitspensum dieses Abends zu erfüllen.

      „Du wirst“, fuhr Martin fort und versuchte dabei möglichst leise zu sein, damit die fröhliche Truppe am Nachbartisch möglichst wenig von dieser bizarren Geschichte mitbekam,