In der Mitte des Raums hielt die Schwalbe Cercle. Viele sammelten sich um ihre sowohl ehrwürdige als auch flotte Figur. Sie schüttelte hundert Hände und lachte jeden aus den blauen Kapitänsaugen an. – Meisje und Dr. Mathes, ein glückliches Paar, saßen still nebeneinander und schienen beinah vollkommen zufrieden. Theo Hummler war gefolgt von mehreren Burschen, deren Gesichter den Ausdruck entschlossenen Ernstes zeigten. Es waren wieder einmal solche, die gerade erst aus Deutschland eintrafen und viel Schreckliches zu erzählen wußten. Dieses Mal waren ihre Nachrichten besonders sensationell. Sie bestätigten den emigrierten Freunden, was auch diese ihrerseits schon gehört hatten: daß zwischen den höchsten Spitzen des Regimes – zwischen dem Führer selbst und einigen seiner alten Freunde – bedenklicher Unfriede herrschte. Einer der Mächtigsten hatte eine Rede gehalten, die als Sturmzeichen gelten durfte. Die jungen Leute meinten: »Man muß auf allerhand gefaßt sein. Die alten Nationalsozialisten fangen an dahinterzukommen, daß man sie beschwindelt hat. Schließlich bestehen sie noch auf dem Parteiprogramm und möchten den Sozialismus haben. Dagegen muß von höchster Stelle was unternommen werden … Andererseits machen die Konservativen Opposition. Es kann ein nettes Durcheinander geben!«
Ein Gefolge hatte auch Dora Proskauer; es bestand aus jüdischen Damen und Mädchen, die zugleich animiert und ängstlich um sich blickten: einerseits angeregt von der Freude auf den literarischen Genuß, der bevorstand; andererseits gequält vom Gefühl, es könnten auch hier plötzlich Verfolgungen gegen sie einsetzen. – David Deutsch trippelte aufgeregt hin und her, als wäre er selbst es, der sich gleich würde produzieren müssen. Er begrüßte Martin und Kikjou, die in dunklen Anzügen bleich und fromm wie zwei Konfirmanden wirkten. – Neben Marcel saß ein großer Neger, mit dem er eigentlich nur verkehrte, um Madame Poiret zu schockieren. – Ilse Ill wand sich vor Eifersucht wegen des gut besuchten Parketts. Siegfried Bernheim plauderte leutselig. Professor Samuel – weise und sensuell – umarmte junge Damen und junge Herren, während er mit alten, klugen Augen ihre Mienen studierte, als wollte er sie gleich porträtieren. Germaine Rubinstein mied den Kreis ihrer Mutter, von dem eine gewisse Düsterkeit ausging, und setzte sich in die Nähe der Schwalbe. Monsieur Rubinstein unterhielt sich mit dem ungarischen Grafen, der sinnend um sich blickte, als dächte er über die Probleme einer Schachpartie nach oder über die Umstände, die ihm die Rückkehr in die Heimat seit so vielen Jahren unmöglich machten. – Bobby Sedelmayer hielt sich etwas im Hintergrund; er hatte seine »Rix-Rax-Bar« gerade vorige Woche schließen müssen, was eine erhebliche Enttäuschung für ihn bedeutete. Indessen dachte er gar nicht daran, schon den Mut zu verlieren. Vielmehr versicherte er dem jungen Kündinger, der bei ihm stand: »Europa wird überhaupt zu eng! Ich habe es gründlich satt. Von meinen neuen Plänen darf eigentlich niemand was wissen. Aber Ihnen verrate ich es: ich will nach China … Na, was sagen Sie dazu?« Der unverwüstliche Weißhaarige strahlte wie ein Knabe, den der Gedanke an unerhörte Abenteuer erregt. »Nach Shanghai«, flüsterte er, Glanz in den Augen und die rosige Miene freudig bewegt. »Der ferne Osten ist ein alter Traum von mir. Dort werde ich bestimmt mein Glück machen …«
Zu ihnen gesellten sich Nathan-Morelli und die Sirowitsch, die längst zueinander gehörten. Der Sirowitsch wegen – an die er sich bis zu dem Grade gewöhnt hatte, daß man beinah von Liebe sprechen durfte – hatte Nathan-Morelli seine Londoner Wohnung aufgegeben und war ganz nach Paris übergesiedelt. »Marions Programm verspricht interessant zu werden«, sagte er zu Bobby und blickte klug aus den schräggestellten Mongolenaugen.
Das Programm stand unter dem Motto »Zeitgemäße Klassik«. Angekündigt waren Stücke von Schiller, Lessing, Goethe, Heine, Victor Hugo, Gottfried Keller, Nietzsche und Walt Whitman.
Als Marion das Podium betrat, wurde es still im Saal. Die Schwalben-Mutter flüsterte noch: »Wie schön sie aussieht!« Dann verstummte auch sie. Marion begann mit Schillers Gedicht »An die Freunde«. Ihre Stimme rief:
»Liebe Freunde, es gab schönre Zeiten
Als die unsern – das ist nicht zu streiten!
Und ein edler Volk hat einst gelebt.
Könnte die Geschichte davon schweigen,
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die man aus dem Schoß der Erde gräbt.
Doch es ist dahin, es ist verschwunden,
Dieses hochbegünstigte Geschlecht.
Wir, wir leben! Unser sind die Stunden,
Und der Lebende hat recht.«
Sie stand regungslos, während sie sprach – noch sparte sie die Gebärden – nur die Finger bewegten sich und die lockige Mähne, wenn sie das Haupt ein wenig in den Nacken sinken ließ. Das überanstrengte Leuchten ihres Blickes war sowohl beängstigend als bezaubernd. Durch den gereckten Körper schienen Schauer zu laufen wie elektrische Schläge. Auch die im Saale unten wurden von ihnen berührt; zuerst und am stärksten David Deutsch, der vernehmbar seufzte. – »Wir, wir leben …« Die Schwalbe nickte bedeutungsvoll. Da strömten die Verse schon weiter.
Die Verse strömten. Marions Stimme gab die schönsten, überraschendsten Töne her. Sie drohte und lockte, grollte und jubelte, jammerte und sang, wehklagte und triumphierte; sie leuchtete, blendete, rührte, verführte, erschreckte. Sie kam dumpf aus Tiefen, um sich gleich danach zu ungeahnter Höhe emporzuschwingen. Alle saßen gebannt; auf manchen Mienen spiegelte sich sogar Bestürzung. Wie konnte eine einzelne Menschenstimme so beängstigend abwechslungsreich sein und soviel Erschütterung bringen? Gerade hatten noch die meisten feuchte Augen gehabt, und nun lachte der ganze Saal. Auch Marcels französische Freunde, die nur mangelhaft Deutsch verstanden, amüsierten sich, und selbst der Neger, dessen Daseinszweck es war, Madame Poiret zu schockieren, ließ ein Grunzen hören. Marion rezitierte aus dem Gedicht Heinrich Heines: »Deutschland, ein Wintermärchen«.
In jedem Vers und jeder Prosazeile, die sie ausgewählt hatte, gab es die Beziehung zum Heutigen. Sie war niemals aufdringlich; immer deutlich. Die verewigten Meister schienen an dieses Jahr und an diese Stunde – an dieses Publikum und seine besonderen Leiden schienen sie gedacht zu haben, als sie gewisse Dinge schrieben, die Marion nun zum Vortrag brachte. Die im Saale unten begriffen: Weder unsere Leiden noch unsere Erkenntnisse sind so unerhört und so neu, wie wir in der ersten Aufregung oft meinen wollten. Andere vor uns haben schon gelitten und schon nachgedacht und sind von den gleichen Problemen berührt worden wie wir. Aus ihren Erkenntnissen und Schmerzen aber ist Schönheit geworden. Uns hinterließen sie das große Erbe ihrer Weisheiten und der gestalteten Schmerzen. Dieses Mädchen dort auf dem Podium belebt es neu, mittels ihrer erstaunlichen, sehr abwechslungsreichen und höchst rührenden Stimme. Was für ein Genuß, ihr zuzuhören! Und übrigens ist es auch tröstlich. Es erinnert uns daran, daß wir nicht einsam sind. Erstens haben wir diese Freundin dort oben auf dem Podium – das Mädchen, in dessen Blicke und Stimme wir uns alle verlieben – und dann, die erhabenen Toten, die schon soviel durchdacht und ausgestanden haben, längst ehe wir von all dem etwas wußten. Plötzlich sind sie in unserer Nähe. Wie verklärte Brüder schauen sie uns ernst und freundlich an. Geisterhafte Zusammenhänge stellen sich her; aus den großen Toten sind neue Freunde geworden.
Auch die jungen Leute, die aus Deutschland kamen und die Köpfe voll politischer Neuigkeiten hatten, waren ergriffen. Als Marion den ersten Teil ihrer Darbietung mit einem Gedicht von Gottfried Keller, »Die öffentlichen Verleumder«, effektvoll geschlossen hatte, waren es die jungen Deutschen, die am lautesten applaudierten.
Während der Pause durfte nur Marcel zu Marion kommen. Er sagte ihr, wie schön es gewesen war; er küßte sie, sie saßen beieinander. In dem kleinen Raum, der hinter der Szene lag, konnten sie nicht hören, wie unruhig es drunten im Saale geworden war. Irgend jemand hatte neue Zeitungen von der Straße mitgebracht. Die Nachrichten waren wirr. Niemand wußte noch genau, worum es sich handelte. Aber Unglaubliches schien sich vorzubereiten, in Deutschland drüben, oder war schon im Begriff zu geschehen. Eine Art von Palastrevolution – so hieß es – war ausgebrochen im Dritten Reich. Hatte es schon Tote gegeben? Kam es zu einem Massaker? Und wer würde fallen …? Alles redete durcheinander.