Vor der »Stadsschouwburg« war es still geworden: drinnen hatte wohl die Ouvertüre begonnen. Wie gerne wäre Abel dabei. »Figaro« war seine Lieblingsoper …
Der einsame Professor bestellte sich noch einen Bols – anfangs hatte er den klaren, scharfen holländischen Schnaps nicht ausstehen können; jetzt aber fand er schon, daß er eigentlich ganz gut schmeckte, besonders, wenn man ihn mit ein paar Tropfen von brauner Essenz würzte. Einen Augenblick lang überlegte Benjamin sich sogar, ob er dem Mädchen, das mit bunten Tulpen zwischen den Tischen umherging, ein paar Blumen abkaufen sollte, eine rote, eine gelbe und eine weiße Tulpe; er könnte sie vor sich hin in sein Wasserglas stellen, sie würden ein schönes Leuchten haben im milden Dämmerlicht der frühen Abendstunde. Aber dann fand er, daß dies doch wohl zu extravagant und übermütig wäre. Er beschloß, daß er, nach dem Genuß dieses zweiten Bols, bezahlen, aufstehen und den Leidsche Plein überqueren wollte. Gegenüber von dem Hotel, auf dessen Caféterrasse er saß, gab es ein Blumengeschäft, das stets bemerkenswert schöne Orchideen, zart getönte, lieblich und überraschend geformte Blüten, sowie die ausgewähltesten Rosen, Nelken und Tulpen in seinem Schaufenster zeigte. Abel vergnügte sich oft mehrere Minuten damit, vor dieser Etalage zu stehen und sich die bizarren, beinah unzüchtigen Bildungen der kostbaren Treibhauspflanzen zu betrachten. Er fand es merkwürdig und sehr auffallend, welchen Luxus diese ernste und gediegene Stadt Amsterdam mit Blumen sich leistete. Oft kam es vor, daß nachts in einem Lokal Orchideen angeboten wurden wie in den Lokalen anderer Städte Veilchen oder Maiglöckchen. Und die Blumengeschäfte mußten das Ungewöhnlichste bieten, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen.
Über den Leidsche Plein wimmelten die Radfahrer: junge Mädchen, Greise, pfeifende Burschen, alles durcheinander, alles eifrig die Pedale tretend. Abel wunderte sich jeden Tag aufs neue darüber, wieviel Fahrräder es in dieser Stadt gab; das öffentliche wie das private Leben schien sich hier zum großen Teile auf dem Zweirad abzuspielen. Benjamin argwöhnte oft, daß auch der Austausch von Zärtlichkeiten zwischen jungen Paaren auf diesen wendigen kleinen Fortbewegungsmaschinen erledigt wurde. Übrigens fürchtete Professor Abel sich sehr vor diesen »Fietsern«, wie sie hier hießen; durch ihre massenhafte Existenz wurde jede Überquerung einer Straße zum riskanten Abenteuer.
Nun hatten sie schon ihre kleinen Laternen an den Lenkstangen angesteckt, obwohl es am glasig grünblauen Himmel noch ein wenig Helligkeit gab.
Auf der Brücke, die über die Singelgracht führt, stieg eine kleine Gesellschaft junger Leute von den Rädern, um über das Brückengeländer ins träge, stehende Wasser zu schauen und recht nach Herzenslust sentimental zu sein. Sie stellten ihre Räder an die steinerne Brüstung, gegen die sie sich selber lehnten; sie legten einander die Arme um die Schultern, und nun sangen sie. Es war etwas recht wehmütig Gedehntes, Zärtliches und dabei Rauhes; Abel fand, daß es hübsch und rührend klang. Wahrscheinlich waren die jungen Leute im Vondelpark spazierengefahren, und dort waren sie derartig stimmungsvoll geworden, daß sie sich nun einfach nicht mehr beherrschen konnten, sondern singen und dabei ins Wasser schauen mußten.
Aus dem Wasser hoben sich Nebel. Allmählich wurde es kühl.
An einem Tisch in Benjamins Nähe sprachen zwei beleibte Herren deutsch miteinander. Abel war empfindlich gegen den Klang der deutschen Sprache geworden; er fuhr immer ein wenig zusammen, wenn er sie unvermutet neben sich gesprochen hörte.
Das Mädchen mit den Tulpen hatte sich zurückgezogen; sie ging wohl jetzt gegenüber, vorm Café »Trianon« oder dem »Lido«, mit ihrem bunten Körbchen herum. Statt ihrer hatte sich ein Drehorgelmann eingefunden; eigentlich waren es zwei: der eine bediente das große, weiße, goldverzierte Instrument, das auf Rädern fortbewegt wurde; der andere ging mit seiner Mütze von Tisch zu Tisch und kassierte das Kleingeld. Er machte große Schritte, beinah rannte er; denn es galt, einem kleinen Malaien zuvorzukommen, der Erdnüsse anbot und auch gerne kleine Münzen haben wollte. Der Malaie, ein altes Männchen, wirkte so mitleiderregend, daß mancher ihm gab statt dem Abgesandten der prächtigen Drehorgel. Die kleine Jammergestalt aus den warmen Zonen schien ganz erbärmlich zu frieren. Seinen viel zu großen alten Hut hatte er sich tief in die Stirn gedrückt, und der Kragen seines häßlich braunschwarzen Überziehers war bis über die Ohren hochgeschlagen. Sein Gesicht, mit den breiten Wangenknochen und den schmalen traurigen Augen, bräunlich-schwarz wie der Paletot, verschwand fast zwischen Kragen und Hut; was man jedoch von diesem armen Menschenantlitz sah, genügte, um den Eindruck unendlichen Elends, trostloser Verlassenheit stark werden zu lassen.
Professor Abel reichte ihm eines der spielzeughaft kleinen Zehncentstücke, die er in seiner Tasche fand. ›Ein Heimatloser, auch er‹, dachte er, nun seinerseits sentimental. ›Anderswo zu Hause als hier, durch weiß Gott welche Zufallsfügungen in diese Stadt verschlagen. Sein Gesicht scheint nur aus Runzeln zu bestehen. Er ist vertrocknet, eingeschrumpft – wie eine Pflanze, die man aus der Erde gerissen hat, in die sie gehört. Ein Heimatloser, er auch …‹
Einer der deutschen Herren am Nebentisch ließ, überlaut, seine Stimme hören, die sowohl fett als auch hart war: »Es gibt immer Möglichkeiten, Reichsmark zu transferieren. Setzen Sie sich doch mal mit Kohn aus Elberfeld in Verbindung.«
Abel hatte genug. Er stand auf.
Die Zeit verging; nun war Abel schon vier Wochen in Amsterdam. ›Das hätte ich auch wieder hinter mich gebracht, auch wieder geschafft‹, empfand er, wenn ein Tag oder eine Woche vorüber war. So zählen Gefangene in ihren Kerkern die langsam dahingehenden Stunden und Tageszeiten. Sie warten auf etwas: auf das große Datum, das die Freiheit bringt. Auf was aber wartete Abel? Doch nicht auf »den Sturz des Regimes« in Deutschland? Er meinte, innerlich mit dem Lande fertig zu sein, das ihn davongejagt hatte. Täglich mindestens einmal sagte er sich selber: ›Ich würde in dieses Land nicht zurückkehren, sogar dann nicht, wenn man mich riefe. Ich habe abgeschlossen mit Deutschland‹, versuchte er sich zu überzeugen. ›Mit Deutschland bin ich fertig, ganz und gar.‹
Nein, es war wohl wirklich nicht »der Sturz des Regimes«, dem er entgegenharrte. Er zählte die Tage, die Wochen, weil er die Lebensumstände, in denen er sich befand, als durchaus provisorisch betrachtete. So konnte es doch nicht bleiben; so, wie es nun war, konnte es doch keinesfalls ewig weitergehen.
Es ging eine ganze Zeitlang so weiter. Für Benjamin war es fast etwas wie eine Ewigkeit.
Während der ersten zehn Tage seines Amsterdamer Aufenthaltes hatte er in einem großen Hotel am Bahnhof gewohnt. Die Nähe der »Centraal Station« war ihm tröstlich; sie bedeutete ihm ein Symbol für das Unverbindliche, Vorläufige seines Zustandes.
Auf die Dauer konnte er sich einen solchen Lebensstil nicht leisten. Das Hotel war teuer: fünf Gulden am Tag, nur für Zimmer und erstes Frühstück – man kam sich ja wie ein Hochstapler vor. Die Ersparnisse, die er noch besaß, waren gering; im wesentlichen war man auf eine kleine Pension angewiesen, und leider lag es durchaus im Bereich des Möglichen, daß auch diese Unterstützung plötzlich wegfiel; der nationale Staat konnte es müde werden, einem »geistigen Landesverräter« auch noch Geld ins Ausland nachzuwerfen.
Außerdem fand Abel, daß zu viele Deutsche im Hotel ein und aus gingen. Manchmal sprach ein deutscher Herr ihn wohl sogar an, im Lift, in der Bar oder in der Halle. Sehr wohl möglich, daß er nur eine harmlose Plauderei beginnen wollte – unverbindliche Konversation zwischen Landsleuten, die sich in der Fremde begegnen: »Na, auch mal auf Reisen, wie gefällt es Ihnen in Amsterdam, ich muß jedes Jahr geschäftlich ein paarmal rüber, kann Ihnen eine kleine Kneipe empfehlen, wo famoses Bier ausgeschenkt wird, fast wie im Münchner Hofbräuhaus, hahaha …« So etwa schwatzten die Herren. Professor Abel aber zuckte zusammen, als hätte man ihn schon nach seiner Weltanschauung, seiner politischen Gesinnung und seinen Familienverhältnissen ausgefragt. Man wußte doch nie, mit wem man es zu tun hatte.
Professor Abel, der keine deutschen Zeitungen mehr las und in den