Von Annettes schönen und anregenden Wochen mit ihrer armen Mama im Haag und in Amsterdam hatte Benjamin schon früher gehört. Aber wie geschickt sie zu reden verstand! Ganz entschieden: eine vorzügliche Frau – das bewies sich in so ernsten Situationen, wie Abels gegenwärtige eine war. Freilich, die Wendung vom »kulturellen deutschen Raum« hatte ein wenig verdächtig geklungen, etwas nach der üblen neuen Terminologie. Sollte die brave Annette schon ein klein bißchen angesteckt sein? Ach, wie würde sie sich entwickeln, wenn man sie den vehementen und unangenehmen Einflüssen überließ, die sich nun hierzulande der Menschen wie eine Seuche bemächtigten und sie boshaft verdarben …
»Sicher«, bestätigte Benjamin, etwas müde. »Du hast sicherlich recht.«
»Und vielleicht«, rief Fräulein Lehmann fast flehend, »vielleicht findest du gar eine Möglichkeit zur Beschäftigung in Holland selbst und kannst auf die Dauer dort bleiben – das wäre doch wundervoll. Ich würde dich dann manchmal besuchen …« Es lag ihr viel daran, ihn davon zu überzeugen, daß er in Holland glänzend aufgehoben sein würde und daß dort nur das Beste ihn erwarte; denn er mußte doch weg, mußte doch Deutschland schleunigst verlassen, es war ja seiner selbst unwürdig, wenn er blieb, und außerdem – diesen Gedanken wagte Fräulein Lehmann kaum sich selber zuzugeben – kompromittierte seine Anwesenheit auch sie, Annette. Sie wollte es ihm so gerne ersparen, daß sie sich von ihm zurückzog, sich nicht mehr öffentlich mit ihm zeigte. Aber andererseits: sie stand alleine in der Welt, sie konnte es nicht riskieren, aufzufallen, Skandal zu erregen – und skandalös war es doch nun einmal, wenn heute eine »Arierin« – Fräulein Lehmann war »Arierin« – mit einem »Nichtarier« Umgang hatte. Seitdem Geheimrat Besenkolbs gräßlicher Artikel erschienen war, wurde Benjamin Abel von allen, die in Bonn auf sich hielten, peinlich gemieden. Hatte Annette denn Lust, auch über sich selber noch einen Artikel solcher Art zu lesen? Die Nazizeitungen waren wachsam, wenn es »Rassenschande« betraf. Und wie schnell konnten die Fensterscheiben an einem kleinen Antiquitätenladen zerschmissen werden …
»Ich würde dich jedes Jahr ein paarmal besuchen können«, versicherte Annette Lehmann noch einmal. Sie gab sich Mühe, dem alten Freund den Abschied so erträglich wie möglich zu machen.
Also die Niederlande – Abel versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Niederlande gehören noch zum kulturellen deutschen Raum. Man will uns in Deutschland nicht mehr – grübelte Benjamin; aber wir klammern uns an den »deutschen Kulturraum …«
Der Entschluß ist gefaßt, er wird schnell in die Tat umgesetzt. Eilige Auflösung des Marienburger Haushaltes: es findet sich ein junges Ehepaar, welches die kleine Villa samt der Einrichtung sofort zu übernehmen bereit ist. Hastiger und ungünstiger Verkauf der Bibliothek; Abel entschließt sich, nur zwei Kisten – ein paar hundert ihm besonders lieber Bände – mit ins Exil zu nehmen. (Ja, es ist das Exil: dies wird ihm von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde klarer: er spürt es mit immer grausamerer Deutlichkeit, während er sich losmacht von allem, was nun so lange sein Leben gewesen ist.)
Annette kann ihm, bei soviel komplizierten und quälenden Erledigungen, kaum behilflich sein: Ein dummer Zufall, sie muß gerade jetzt nach Frankfurt reisen, »ein paar wichtige Auktionen, weißt du; so viele reiche Leute ziehen doch jetzt weg von Deutschland, und da kommen Dinge auf den Markt, die sonst gar nicht zu kriegen gewesen sind …« Ja, natürlich, viele reiche Leute ziehen weg von Deutschland, auch arme übrigens – warum ziehen sie eigentlich alle weg? Der Kunstmarkt jedenfalls profitiert davon; bald werden sich auch neue Käufer finden für all die schönen Sachen, an die man sonst nicht herangekommen ist, eine neue Käuferschicht ist im Begriff, sich zu bilden, Annette hat wohl alle Hände voll zu tun, es ist ja schade, daß sie gerade während der letzten Wochen, die Benjamin noch in Deutschland hat, auf Reisen sein muß …
Abschiedsbesuch bei der Mutter in Worms; Tränen, Umarmungen ohne Ende. »Du kommst bald mal zu mir nach Holland, Mama, die Badeorte da drüben sollen ja wundervoll sein, Scheveningen zum Beispiel, und übrigens, wie lange wird diese Naziherrlichkeit schon dauern, alle sagen, Hugenberg und seine Leute werden Hitler davonjagen …« – »Sicher, mein Liebling, sicher, aber ob ich das noch erleben werde, ich bin doch schon alt, und in Scheveningen war ich mal mit deinem Vater, ein prächtiger Ort, feine Hotels, aber ich vertrage den starken Wind an der Nordsee nicht, er macht mir Atembeschwerden, Kopfschmerzen auch, hast du denn alle deine warmen Sachen eingepackt, in Holland mußt du vorsichtig sein mit dem Essen, sie haben dort eine schwere Küche, der Aal ist delikat, aber unverdaulich, du weißt doch, dein empfindlicher Magen.«
Noch einmal Bonn; nun wohnt Professor Abel schon im Hotel, sein Marienburger Haus wird für das junge Ehepaar zurechtgemacht. Annette ist aus Frankfurt zurückgekommen; sie erscheint spätabends, merkwürdigerweise trägt sie einen ziemlich dichten Schleier vorm Gesicht, sie hat doch früher nie einen Schleier getragen, und nun gleich einen so fest gewebten, hinter dem man ihr Gesicht kaum erkennt. Sie berichtet: in Frankfurt hat sie einige seltene und kostbare Dinge erstanden, ein Stück gotischen Samt, wundervoll und beinahe geschenkt, ich kann tüchtig Geld dran verdienen, wenn ich den richtigen Käufer finde, deutsche Gotik wird vermutlich sehr im Preise steigen, das hängt mit allgemeinen Zeitströmungen zusammen. Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiß das doch bitte nie! Vergiß zum Beispiel bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusikabende in Marienburg! Adieu, Geliebte! Was wäre denn nun, wenn ich dich geheiratet hätte, damals, als wir beide jung gewesen sind? Sähe dann alles besser aus, oder noch komplizierter? Leb wohl! »Holland ist ja so nahe!« sagt Annette – wie vernünftig Annette ist. Ja, Holland ist nah, eine lächerlich geringe Entfernung. Und trotzdem, was für eine große, einschneidende und bedeutsame Trennung. Laß mich noch einmal dein Gesicht küssen, du bist immer noch schön, ich finde dich immer noch schön, wir sind doch ein Paar gewesen, Gott sei Dank, daß du nun endlich diesen störenden Schleier abgenommen hast …
Professor Abel kannte in Amsterdam keinen Menschen. Annette Lehmann hatte ihm einen Brief an einen großen Kunsthändler mitgegeben; aber Benjamin entschloß sich nicht dazu, von dem Empfehlungsschreiben Gebrauch zu machen. ›Die Leute werden wahrscheinlich mehr, als ihnen lieb ist, von deutschen Emigranten behelligt‹; dieses war des Professors entmutigende Überlegung. Der gleiche Gedanke bestimmte ihn dazu, bei einem Kollegen in Leiden, den er aus Heidelberg, und bei einem anderen im Haag, den er aus Bonn kannte, sich vorläufig nicht zu melden.
Benjamin Abel war ganz allein.
Er ging herum wie in einem schlimmen Traum, und was er dachte, war immer nur: ›Was soll ich hier? Warum bin ich eigentlich in dieser fremden Stadt? Leider bin ich doch gar kein Holländer – warum gehe ich also in den Straßen von Amsterdam spazieren? Freilich, freilich‹ – erinnerte er sich, wirr und betrübt – ›man hat mich aus Deutschland hinausgeschmissen, ich durfte dort nicht mehr bleiben, Geheimrat von Besenkolb hat mich als einen »geistigen Vaterlandsverräter«, als einen »Schädling an der deutschen Kultur« gebrandmarkt …‹
Er saß im Freien, vor einem Café am Leidsche Plein. Es war angenehm, draußen zu sitzen; nach einem Junitag, der hochsommerlich heiß gewesen war, brachte die abendliche Stunde willkommene Kühle. Von seinem Platz aus konnte Abel sehen, wie vor der »Stadsschouwburg« die schweren Automobile hielten und wie die Damen in Abendmänteln, die Herren mit den gestärkten weißen Hemdbrüsten sich am Portal drängten. Es gab eine festliche Opernaufführung, Mozart, Abel hatte Lust gehabt, hinzugehen. ›Es wäre hübsch gewesen, den »Figaro« einmal wieder zu hören, warum habe ich mir eigentlich kein Billet besorgt‹ – dachte er. Aber dann: ›Nein, ich muß sparen; Galaabende in der Oper zu frequentieren, das entspricht keineswegs meinen Verhältnissen.‹ – Es lag ihm daran, sich selber glauben zu machen, daß er nur aus Gründen der Ökonomie auf den Mozart verzichtet habe. In Wirklichkeit hinderten ihn andere Gefühle an