»Wieviel Typen!« rief David mit merkwürdig fliegenden Gesten. »Wie diese moralischen, politischen, artistischen Konzeptionen dialektisch gegeneinander stehen; sich ergänzen, begegnen, überschneiden; sich widersprechen, gegenseitig aufzuheben scheinen – und doch alle zusammen in eine Synthese, zu der wir erst allmählich vordringen werden, einmünden; in das wahrhaft Neue, die Zukunftsform des Humanismus … Jeder trägt sein Teil dazu bei; jede Rubrik in unserer komplizierten Statistik hat ihre besondere, wesentliche Funktion.
Um nur irgendeinen Fall herauszugreifen: mein alter Professor Abel, bei dem ich in Bonn Kollegs über den Faust und die deutsche Romantik hörte; bourgeoiser Intellektueller, gutmütiger Liberaler, ausgesprochen historisch-konservativ orientiert; der unpolitische, antirevolutionäre Deutsche par excellence: wer hätte gedacht, daß er jemals mit der Macht in akuten Konflikt kommen würde? Mein alter Abel – die Harmlosigkeit in Person – wird ins Exil getrieben. Als Exilierter entwickelt er sich vielleicht zum Repräsentanten klassischer deutscher Traditionen – gegen jene Verfälschung und Verfratzung deutschen Wesens, die Nietzsche schon in Bismarcks Reich seherisch erkannte, anprangerte, bekämpfte …«
Mutter Schwalbe stand seufzend auf. Es wurde ihr zu gebildet.
Marion erkundigte sich – das Gesicht in die Hand geschmiegt, die auf der Stuhllehne ruhte: »Wo ist dieser Abel jetzt?«
Ihre Stimme, leuchtend zugleich und dunkel, hatte die Macht, sofort die gespannte Aufmerksamkeit aller im Raum wie durch einen Zaubertrick zu gewinnen. David, schreckhaft von Natur, warf, in jäher Drehung zuckend, den Oberkörper herum. Statt zu antworten, bedeckte er die Augen mit der Hand, als hätte zu starkes Licht ihn geblendet. Marion wiederholte: »Wohin ist denn dieser Abel verschlagen worden?«
3
Professor Benjamin Abel war dreiundvierzig Jahre alt und gehörte zu den angesehensten jüngeren Literaturhistorikern der deutschen Universität. Er war Privatdozent in Heidelberg gewesen und hatte im Jahre 1929 einen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Bonn erhalten, was für einen jüdischen Gelehrten und gerade für einen Germanisten nichtarischer Abkunft damals schon eine besondere Ehrung bedeutete; denn der Antisemitismus an den deutschen Hochschulen war penetrant, noch ehe er zur Staatsreligion erhoben wurde.
In Bonn hatte sich Professor Abel einer großen Beliebtheit bei den Studenten erfreut; sein Kolleg über die deutsche Romantik war stärker frequentiert worden als die Vorlesungen über »Friedrich Schiller und die nationale Idee«, die sein Kollege, der alte Geheimrat von Besenkolb, im gleichen Semester hielt. Geheimrat Besenkolb war früher Alldeutscher, dann Deutschnationaler gewesen; am Tage nach dem ersten bedeutenden Wahlsieg der Nazis erschien er vor seinem Auditorium mit einem kleinen, jedoch nicht zu übersehenden Hakenkreuz im Knopfloch seines Jackettaufschlages.
Besenkolb, ein aufrechter Greis mit bösen, stahlblauen Augen, weißem Knebelbart und stark hervortretenden bläulichen Adern auf den Handrücken und auf der mehrfach gebuckelten, hohen, kalkweißen Stirn – Geheimer Rat Maximilian Freiherr von Besenkolb – hatte eine vernichtende Art, mit knapp andeutendem Kopfnicken den etwas ironisch-devoten Gruß seines Kollegen Abel zu erwidern. Seit dem Herbst 1930 erschien der Geheimrat in keiner Gesellschaft mehr, wenn die Hausfrau ihm nicht vorher die Zusicherung gegeben hatte, daß Professor Abel nicht zugegen sein würde.
Als die Nazis zur Herrschaft kamen, war Professor Abel einer der ersten unter den Dozenten der Universität Bonn, die ihrer Stellung enthoben wurden. Man ersparte ihm die Überlegung, ob er seinerseits, sofort und freiwillig, um seinen Abschied ersuchen oder ob er abwarten sollte, bis man ihn vor die Türe setzte. Wer weiß, wie Herr Abel – eine eher weiche, sensitiv-zurückhaltende, keineswegs heroische Natur – sich angesichts solcher Alternative entschieden hätte. Er mußte gehen, man ließ ihm keine Wahl; Geheimrat von Besenkolb, eifersüchtig wegen des erfolgreichen Romantikerkollegs und von germanischer Unversöhnlichkeit durch und durch, hatte höchstpersönlich die Entlassung des fatalen Konkurrenten beim Kultusministerium sofort beantragt. Es entsprach der ritterlichen Art des deutschen Forschers – zu dessen berühmtesten Arbeiten eine umfängliche Analyse des Nibelungenliedes gehörte – dem gefallenen, für den Augenblick total erledigten Feinde auch noch einen Fußtritt zu versetzen. Dieser bestand in einem langen und ungeheuer beleidigenden Feuilleton, das über den weggeschickten Professor in einem der führenden rheinischen Naziblätter erschien und überschrieben war: »Schluß mit der Schändung deutschen Kulturgutes!« Der enorm gehässige Aufsatz war mit Initialen gezeichnet, und man nahm allgemein an, daß er von Geheimrat Besenkolb verfaßt, mindestens inspiriert worden war: er hatte alle Charakteristika seines zugleich markigen und tückischen Stils.
Benjamin Abel war sehr ratlos und betrübt. Er wußte gar nicht, wohin er sich nun wenden und was aus ihm werden sollte. Sowohl die Würde als der Selbsterhaltungstrieb verboten es ihm, noch länger in Deutschland zu leben, das lag auf der Hand. Andererseits war ihm eine Existenz im Ausland fast unvorstellbar. Abgesehen von den obligaten Italienreisen der Studentenzeit, von ein paar Touren in den Schweizer Bergen und etlichen Besuchen in Wien und Paris, die vor allem den Wiener Breughels und den Schätzen des Louvre gegolten hatten, war er niemals außerhalb der Reichsgrenzen gewesen. Für fremde Sprachen war er keineswegs besonders begabt. Er kannte sich selbst als gehemmt und belastet mit einer fatalen Neigung zu Minderwertigkeitskomplexen, die mit Erfolg zu bekämpfen ihm nicht immer gelang. Es fiel ihm schwer, sich an Menschen anzuschließen, die meisten langweilten ihn, und wenn er seinerseits zu einer Person sich hingezogen fühlte – sei es aus welchen Gründen und unter was für Umständen auch immer – plagte ihn der Argwohn, er könnte lästig fallen oder den Eindruck eines Aufdringlichen machen. Seine alte Mutter lebte in Worms – der Geburtsstadt Benjamins – wo er sie jedes Vierteljahr mindestens einmal zu besuchen pflegte; übrigens verbrachte er seine Sommerferien regelmäßig mit der alten Frau in einem kleinen deutschen Kurort. Von der Mutter würde er sich trennen müssen, wenn er Deutschland verließ; denn natürlich war nicht daran zu denken, daß die beinahe Siebzigjährige das Wormser Haus aufgab, in dem sie an die fünfzig Jahre verbracht hatte, und wo ihr Gatte, Benjamins Vater, gestorben war. Auch die Freundin würde Abel verlieren; nun bereute er, daß er sich, vor zehn Jahren, nicht dazu entschlossen hatte, sie zu heiraten. »Ich eigne mich ganz und gar nicht zum Ehemann«, hatte er damals gesagt, und Fräulein Annette Lehmann eröffnete resigniert eine kleine Antiquitätenhandlung in Köln, die übrigens recht gut florierte. Obwohl Benjamin, aus Ängstlichkeit und eigensinnigem Spleen, das liebe Fräulein Annette nicht zur Frau Professor gemacht hatte, waren die beiden während all der Jahre ein Paar und wurden von ihrem Bekanntenkreis durchaus wie Eheleute behandelt.
Wie viele gute Dinge des Lebens würde man in der Fremde vermissen: die gemütlichen Kammermusikabende zum Beispiel, die Benjamin in seinem Häuschen zu Marienburg, zwischen Bonn und Köln, gepflegt hatte. Professor Abel leistete Achtbares auf dem Cello, und er hatte einen guten Freund von der medizinischen Fakultät, der als wackerer Pianist gelten durfte. Zu diesen beiden fand sich dann wohl noch ein musikbeflissener Kollege oder Student, und so war denn in der Marienburger Miniaturvilla manch Beethoven- oder Brahms-Quartett, nicht eben meisterlich, aber doch mit innigem Verständnis und halbwegs hinreichender Technik exekutiert worden. Fräulein Annette hatte Tee und Brötchen gereicht, und in den Lehnstühlen hatten die Professorengattinnen mit Handarbeiten gesessen und sich Universitätsklatsch erzählt, wenn Schubert oder Bach verklungen war. Wie traulich war dies gewesen! Nun, da es so ganz vorüber sein sollte, in der Erinnerung, nahm es sich geradezu zauberhaft traulich aus. Übrigens gehörte der Klavierkünstler von der medizinischen Fakultät derselben Pariarasse an wie Abel. Am 30. Januar 1933 teilte er Benjamin mit, daß er nach England zu verziehen gedenke.
Nein, nach England wollte Benjamin doch wohl nicht; ihm schien, in einer so ungeheuer großen und fremden Stadt wie London würde er gar nicht atmen können. Nach langen Beratungen, die er mit sich selbst und mit Annette Lehmann anstellte, entschied er sich für die Niederlande. »Dorthin wolltest du doch ohnedies immer einmal«, erinnerte ihn das intelligente Fräulein. Der Professor nickte wehmütig: »Ja, um die Rembrandts zu sehen.« – »Nun, und jetzt wirst du Zeit haben, dir die Rembrandts und die Frans Hals und die Jan Steens einmal gründlich anzuschauen.«