Theophil Marder war abgereist, nachdem es zwischen ihm und Oskar H. Kroge zu einer katastrophalen Auseinandersetzung gekommen war. Der Autor von »Knorke« hatte den Direktor zwingen wollen, ihm auf einem notariell beglaubigten Papier zu versprechen, daß sein Stück mindestens fünfzigmal aufgeführt werde. Kroge hatte sich natürlich geweigert, worauf Marder zunächst mit dem Staatsanwalt drohte, um schließlich, als dies nicht den gewünschten Eindruck machte, den Leiter des Hamburger Künstlertheaters als eine komplette Null ohne Disziplin und Persönlichkeit, als einen betrügerischen Geschäftemacher, einen ahnungslosen Banausen und einen typischen Repräsentanten dieser stinkenden, todgeweihten Epoche zu beschimpfen. Auf so viel schnarrend vorgebrachte Beleidigungen konnte selbst Kroge, sonst ein verträglicher Mensch, nicht ganz ohne Bitterkeit reagieren. Man zankte sich eine Stunde lang. Dann bestieg Marder in bester Laune den Berliner Expreß.
Hendrik, Nicoletta und Barbara trafen sich jeden Tag. Manchmal geschah es auch, daß Hendrik und Barbara ohne Nicoletta zusammen waren. Man machte Spaziergänge, Bootsfahrten auf der Alster, saß auf Terrassen, besuchte Galerien. Man kam sich näher, man sprach. Barbara erfuhr von Hendrik, was er sie erfahren lassen wollte: pathetisch deklamierte er ihr seine Gesinnung vor, verkündete seine Hoffnung auf die Weltrevolution und die Sendung des Revolutionären Theaters. In dramatisch ausgeschmückter Form ließ er sie die Geschichte seiner Kindheit wissen, schilderte die häuslichen Verhältnisse, seinen Vater Köbes, seine Mutter Bella, seine Schwester Josy.
Von ihrer Kindheit sprach auch Barbara. Hendrik begriff, welche die beiden zentralen Figuren in ihrem Leben bis jetzt gewesen waren: der geliebte Vater und Nicoletta, die Freundin, an der sie mit besorgter Zärtlichkeit hing. Zur Sorge hatte das abenteuerliche und grelle Mädchen ihr schon vielen Anlaß gegeben; die größte Beunruhigung aber kam für Barbara aus Nicolettas neuer Beziehung zu Marder. Barbara verabscheute ihn, Hendrik hatte es gleich geahnt. Ihren flüchtig spöttischen Andeutungen war übrigens zu entnehmen, daß Theophil, ehe er noch Nicoletta kannte, ihr, Barbara, leidenschaftlich den Hof gemacht hatte. Sie aber war in einem verletzenden Grade ablehnend geblieben: daher Theophils Haß auf sie. Um so mehr Glück hatte er nun bei Nicoletta. Sie erklärte jedem, der es hören wollte, mit präzisen Worten, daß Theophil Marder der einzige durchaus vollwertige, wahrhaft ernst zu nehmende und bedeutende Mann sei, den Europa augenblicklich aufzuweisen habe. Beinahe täglich telefonierte sie lange mit ihm, obwohl Barbara zeigte, wie tief und schmerzlich sie es mißbilligte. Nicoletta ihrerseits beobachtete mit blanken, wohlwollenden Augen, was zwischen Barbara und Hendrik sich vorbereitete. Es war ihr lieb, daß Barbara, deren pädagogisch-zärtliches Interesse ihr lästig wurde, sich selbst zu verstricken schien in sentimentale Abenteuer. Was an Nicoletta lag, tat sie, um diese Beziehung zu fördern. Sie sprach zu Hendrik, als sie abends in seine Garderobe trat:
»Es freut mich, daß du vorwärts kommst mit Barbara. Ihr werdet euch heiraten. Das Mädchen weiß sowieso nicht, wohin mit sich.«
Hendrik verwahrte sich gegen solche Ausdrucksweise; aber er zitterte vor Freude, als er fragte: »Glaubst du denn, daß Barbara daran denkt …?«
Nicoletta hatte ihr klirrendes Lachen. »Natürlich denkt sie daran. Merkst du nicht, wie sie ganz verändert ist? Lasse dich nicht dadurch täuschen, mein Schatz, daß sie dir mitleidig zu begegnen scheint. Ich kenne sie doch – sie gehört zu den Frauen, in deren Zuneigung sich immer Mitleid mischt. Heirate sie! – es ist für euch beide ganz entschieden das praktischste. Übrigens wird es auch für deine Karriere günstig sein; der alte Bruckner hat Einfluß.«
Auch hieran hatte Hendrik schon gedacht. Der Rausch seiner Verliebtheit, der anhielt – oder von dem er doch gern glauben wollte, daß er dauerhaft sei – vermochte Erwägungen kühlerer Art nicht ganz zu verdrängen. Geheimrat Bruckner war ein großer Mann, auch nicht arm; die Verbindung mit seiner Tochter würde Vorteile bringen, neben allem Glück. – Hatte Nicoletta recht mit ihren zynischen und dezidierten Reden? Erwog Barbara die Möglichkeit einer Verbindung mit Hendrik Höfgen? Wie weit ging ihr Interesse an ihm? War es nicht nur spielerischer und oberflächlicher Natur? Ihr Madonnengesicht mit dem spitzbübischen Zug war undurchschaubar. Nichts verriet ihre von goldenen Tönen gesättigte, tiefe, klingende Stimme. Was aber verrieten ihre forschenden Augen, die so oft mit Neugier, mit Mitleid, Freundschaft, vielleicht mit Zärtlichkeit auf Hendrik gerichtet waren?
Er mußte sich beeilen, wenn er es erfahren wollte; die Saison war beinah zu Ende, die letzten »Knorke«-Vorstellungen kamen heran; Barbara und Nicoletta würden abreisen. Da entschloß sich Hendrik. Nicoletta hatte demonstrativ angekündigt, daß sie einen großen Spaziergang mit Rolf Bonetti zu machen gedenke. Barbara war also allein. Hendrik ging zu ihr.
Es wurde ein langes Gespräch, und es endigte damit, daß Hendrik auf die Knie stürzte und weinte. Weinend bat er Barbara, sie möge Erbarmen haben. »Ich brauche dich«, schluchzte er, die Stirn auf ihrem Schoß. »Ohne dich muß ich ganz zugrunde gehen. Es ist so viel Schlechtes in mir. Allein bringe ich die Kraft nicht auf, es zu besiegen, du aber wirst das Bessere in mir stark machen!« So pathetische und peinvoll offene Worte nötigte die Verzweiflung ihm ab. Denn längst hatte Barbaras ganz fassungsloser Blick ihn wissen lassen, daß Nicolettas scharf akzentuierter Zuspruch Irrtum oder freche List gewesen war: niemals hatte Barbara Bruckner an eine Verbindung mit dem Schauspieler Höfgen gedacht.
Nun aber hob er sein tränenüberströmtes Gesicht langsam von ihrem Schoße. Sein blasser Mund zuckte, der Edelsteinschimmer seiner Augen war zerstört, seine Augen schauten blind vor Elend. »Du magst mich nicht«, brachte er schluchzend hervor. »Ich bin nichts, es wird nichts aus mir – du magst mich nicht – ich bin fertig …« Er konnte nicht weitersprechen. Was er noch hätte sagen wollen, verging in Lallen.
Unter gesenkten Lidern schaute Barbara auf sein Haar. Es war schütter. Auf der Höhe des Kopfes sollten sorgfältig frisierte Strähnen die kleine Glatze verbergen. Nun waren diese Strähnen in die schlimmste Unordnung geraten. Vielleicht war es der Anblick des dünnen und armen Haars, der das Mädchen Barbara rührte.
Ohne mit ihren Händen das nasse Gesicht zu berühren, das er ihr hinhielt, ohne die Lider zu heben, sagte sie langsam: »Wenn du es so gerne willst, Hendrik … Wir können es ja versuchen … Wir können es ja versuchen …«
Daraufhin stieß Hendrik Höfgen einen leisen, heiseren Schrei aus, der wie ein gedämpftes Triumphgeheul klang.
Dieses war die Verlobung.
wachten in ihr Mitleid und die pädagogische Anteilnahme. Hendriks erfahrene Schlauheit hatte dies gleich erfaßt. Seit dem ersten Abend, da er, im wirkungsvollen Gegensatz zu Marders lärmend-bravouröser Art, den Stillen und Feinen gespielt hatte, verzichtete er, Barbara gegenüber, weise und enthaltsam auf alle schillernden Künste. Nur von ernsten und ergreifenden Dingen war zwischen ihm und ihr die Rede gewesen: von seiner ethisch-politischen Gesinnung, von der Einsamkeit seiner Jugend, von der Härte und vom Zauber seines Berufes; schließlich aber hatte er dem Mädchen, in der entscheidenden Minute, sein tränenüberströmtes, von Seelenqual erblindetes Gesicht gezeigt, und was er ihr noch hätte sagen können, war vergangen in Lallen.
Barbara war es gewohnt, von ihren Freunden in Anspruch genommen zu werden, wenn diese sich in Nöten und Verwirrungen befanden. Nicht nur Nicoletta war mit ihren komplizierten Beichten bei ihr gewesen, sondern auch junge Männer, und selbst ältere, Freunde ihres Vaters, kamen zu ihr, wenn sie die Trösterin brauchten. Sie war erfahren in den Schmerzen der anderen; seit früher Jugend aber hatte sie es sich versagt, eigene Schmerzen, eigene Ratlosigkeit gar zu ernst zu nehmen oder mitzuteilen. Deshalb glaubte man, es gäbe nichts, was ihr inneres Gleichgewicht störte. Von ihren Freunden wurde Barbara für den ausgeglichenen, energisch klugen, vielfach begabten, reifen, sanften und sicheren Menschen gehalten. Vielleicht gab es unter allen, die ihr nahestanden, nur einen, der um die Labilität ihres inneren Zustandes, um ihre Zweifel an der eigenen Kraft, ihre wehmutsvolle Liebe zur Vergangenheit und ihre Scheu vor der Zukunft wußte: der alte Bruckner kannte sein Kind, das er liebte.
Deshalb enthielt der Brief, den er schrieb, als er die Nachricht