Ihr sehr einfaches schwarzes Kleid, dem der Kenner seine Herkunft von der kleinen Hausschneiderin angemerkt hätte und zu dem sie einen weißen, schulmädchenhaft steifen Kragen trug, ließ den Hals und die mageren Arme frei. Das empfindliche und genau geschnittene Oval ihres Gesichtes war blaß; Hals und Arme waren bräunlich getönt, golden schimmernd, von der reifen und zarten Farbe sehr edler, in einem langen Sommer duftend gewordener Äpfel. Hendrik mußte angestrengt darüber nachdenken, woran ihn diese kostbare Farbe, von der er noch betroffener war als von Barbaras Antlitz, erinnerte. Ihm fielen Frauenbilder Leonardos ein, und er war etwas gerührt darüber, daß er hier, in aller Stille, während Marder mit seiner Kenntnis alter französischer Kochrezepte prahlte, an so vornehme und hohe Gegenstände dachte; ja, auf gewissen Leonardo-Bildern gab es diese satte, sanfte, dabei spröd empfindliche Fleischesfarbe; auch einige seiner Jünglinge, die den gekrümmten, lieblichen Arm aus einer schattenvollen Dunkelheit hoben, zeigten sie. Jünglinge und Madonnen auf alten Meisterbildern hatten solche Schönheit.
An Jünglinge und Madonnen ließ der Anblick Barbara Bruckners den begeisterten Hendrik denken. Nach dem Ideal geformte Knaben hatten diese schöne Magerkeit der Glieder; Madonnen aber hatten dieses Gesicht. So schlugen sie die Augen auf, genauso wie Barbara es jetzt tat: Augen unter langen, schwarzen und starren, aber ganz natürlichen Wimpern; Augen von einem satten Dunkelblau, das ins Schwärzliche spielte. Solche Augen hatte Barbara Bruckner, und sie schauten ernst forschend, mit einer freundschaftlichen Neugier, und zuweilen beinah schalkhaft. Überhaupt war das edle Gesicht nicht ohne schalkhafte Züge: kein weinerliches, auch kein gebieterisches Madonnenantlitz, vielmehr ein durchtriebenes. Der ziemlich große und feuchte Mund lächelte versonnen, aber nicht ohne Witz. Dem träumerischen Frauenhaupt gab es eine fast kecke Note, daß der Knoten des reichen aschblonden Haares im Nacken ein wenig schief saß. Der Scheitel hingegen war genau und in der Mitte gezogen.
»Warum schauen Sie mich so an?« fragte Barbara schließlich, da der entzückte Hendrik den Blick nicht von ihr ließ.
»Darf ich nicht?« fragte er leise zurück.
Sie sagte mit einer burschikosen Koketterie, hinter der ihre Befangenheit sich verbarg: »Wenn es Ihnen Vergnügen macht …«
Hendrik fand: Ihre Stimme war für das Ohr der nämliche Genuß wie die Farbe ihrer Haut für das Auge. Auch ihre Stimme schien gesättigt von reifem und zartem Ton. Auch sie schimmerte, hatte den kostbar nachgedunkelten Glanz. Hendrik lauschte mit derselben Hingegebenheit, die er vorhin gehabt hatte beim Schauen. Damit sie nur weiterspräche, stellte er Fragen. Er wollte wissen, wie lange sie in Hamburg zu bleiben gedächte.
Sie sagte, während sie mit einer Ungeschicklichkeit, die den Mangel an Gewohnheit verriet, an ihrer Zigarette sog: »Solange Nicoletta hier spielt. Es hängt also vom Erfolg des ›Knorke‹ ab.«
»Jetzt freut es mich erst, daß das Publikum heute abend so lange geklatscht hat«, sagte Hendrik. »Ich glaube, auch die Presse wird gut sein.«
Er erkundigte sich nach ihren Studien; Nicoletta hatte erwähnt, daß Barbara die Universität besuchte.
Sie sprach von soziologischen, historischen Kollegs. »Aber ich betreibe ja all das viel zu unregelmäßig«, sagte sie, versonnen und etwas spöttisch. Dabei stützte sie den Ellenbogen auf den Tisch und das Gesicht in die schmale, bräunliche Hand. Ein nicht so wohlwollender Beobachter, wie Hendrik es in diesem Augenblick war, hätte ihre Bewegungen, die ihm von schöner, rührender Befangenheit schienen, ungeschickt und beinah plump finden können. Die Steifheit ihrer Haltung verriet die junge Dame aus der Provinz, die nicht durchaus gewandte Professorentochter, und kontrastierte zu der klugen und heiteren Offenheit ihres Blickes. Sie hatte die Unsicherheit eines Menschen, der in einem bestimmten, eng begrenzten Milieu viel geliebt und verwöhnt worden ist, außerhalb dieses Milieus aber zu Minderwertigkeitsgefühlen neigt. Besonders in Nicolettas Gegenwart schien Barbara es gewöhnt zu sein, eine zweite Rolle zu spielen. Sie war deshalb erfreut und ein wenig belustigt darüber, daß dieser wunderliche Schauspieler, Hendrik Höfgen, auf eine so demonstrative Art sich ihr widmete, und sie setzte das Gespräch mit ihm nicht ungern fort.
»Ich mache so alles mögliche«, sagte sie nachdenklich. »Eigentlich zeichne ich … Mit Theaterdekorationen habe ich mich viel beschäftigt.« Dies war ein Stichwort für Hendrik; er ließ die Unterhaltung lebhafter werden. Mit fliegendem Eifer, auf den Wangen eine helle Röte, sprach er von Wandlungen des dekorativen Stils, von all dem, was es auf diesem Gebiete neu zu entdecken oder wieder zu verwenden, zu verbessern gäbe. Barbara lauschte, antwortete, blickte prüfend, hatte Lächeln, rührend ungeschickte Gebärden der Arme, schalkhaft und versonnen tönende Stimme, die verständige, durchdachte Urteile sprach.
Hendrik und Barbara plauderten leise, angeregt, nicht ohne Innigkeit. Nicoletta und Marder inzwischen funkelten sich verführerisch an. Beide ließen alle ihre Künste spielen. Nicolettas schöne Raubtieraugen waren noch blanker als sonst; die Akkuratesse ihrer Aussprache bekam triumphalen Charakter. Zwischen den grell gefärbten Lippen leuchteten, wenn sie lachte und sprach, die kleinen, scharfen Zähne. Marder seinerseits ließ intellektuelles Feuerwerk sprühen. Sein beweglicher, zuckender Mund, dessen bläuliche Färbung äußerst ungesund wirkte, redete fast ununterbrochen. Übrigens hatte Marder die Neigung, mit größter Intensität immer wieder dieselben Dinge zu sagen. Vor allem bestand er mit einer passionierten Hartnäckigkeit darauf, daß die heutige Zeit, deren aufmerksamsten und berufensten Richter er sich nannte, die denkbar schlechteste, verkommenste und hoffnungsloseste aller Epochen sei. Es existierte in ihr keine geistige Bewegung, keine allgemeine Tendenz oder besondere Leistung, die sein fürchterlicher Anspruch irgend hätte gelten lassen. Vor allem fehlten in ihr, seiner Meinung nach, die Persönlichkeiten; er, Marder, war die einzige weit und breit, und er wurde verkannt. Das Verwirrende war, daß der Beobachter und Richter europäischen Verfalls dieser trostlosen Gegenwart keineswegs das Bild einer Zukunft entgegensetzte, die zu lieben und um derentwillen das Bestehende zu hassen wäre; daß er vielmehr, um das Seiende herabzusetzen, eine Vergangenheit pries, die doch gerade er durchschaut, verhöhnt und kritisch erledigt hatte. Die fiebrig animierte Nicoletta war nicht dazu geneigt, sich über irgend etwas zu wundern; sonst hätte es ihr wohl erstaunlich scheinen können, daß eben der Mann, der sich selbst den klassischen Satiriker der bürgerlichen Epoche zu nennen liebte, nun Offiziere der alten deutschen Armee und rheinische Industrielle zu Idealfiguren verklärte, die tadellose Disziplin und kühne Persönlichkeit sieghaft in sich vereinigten. Der alte Spötter, dessen selbstherrlicher, aber geistig richtungsloser Radikalismus ins Reaktionäre abgeglitten und entartet war, deklamierte schnarrendes Lob für die physischen und moralischen Qualitäten preußischer Generale und höhnte mit der gereizten Stimme eines Unteroffiziers die schlappe Weichlichkeit des heutigen Geschlechts. »Nirgends Zucht! Nirgends Disziplin!« schrie er so laut und zornig, daß die alten Herren, die bei ihren Rotweinflaschen saßen, erstaunt die Köpfe herdrehten. Auch die Frauen hatten jede Disziplin verloren, behauptete der aufgebrachte Marder. Sie verstanden nichts mehr von der Liebe, aus der Hingabe machten sie ein Geschäft, wie die Männer waren sie oberflächlich und vulgär geworden. Hier lachte Nicoletta so herausfordernd, daß Marder galant hinzufügte: »Ausnahmen gibt es natürlich!«
Dann aber begann er wieder