bernsteinhell. Roma Hansen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roma Hansen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738043129
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sie rufen und fuchteln. Die Männer blicken rückwärts. Ungestüm reißt ein Kind sich von ihnen los, tritt eine Spur in den Sand und stolpert in ein von Gras bestandenes Areal, verliert seine Mütze vom roten Haar. Das andere Kind zerren die Männer fort. Helena seufzt, ob des Schauers, was dem Kind in den Fängen der Männer blühe. Sie springt vom Stein, um zu der Chaussee zu gelangen, die Richtung Swinemünde führt, und daran einfacher umzukehren.

      In den Hagelwehen darauf fährt eine schwarze Kutsche an. Unter den Rädern spritzen knirschende Eisklumpen, als sie an Fahrt gewinnen. Der Kutscher peitscht die beiden Gäule, mehr als nötig wäre. Voraus auf Helenas Seite zwängt sich der Rotschopf durchs Randgestrüpp und setzt an, hinüber zu sprinten. Zu ihm lenkt scharf der Kutscher sein Gespann. Der Junge kippt beim Ausweichen und stürzt rücklings ab, hält jäh sein Knie, schreit scharf und laut heraus. Dann bricht seine Stimme.

      Im Moment des Vorbeifahrens schaut ein alter Mann durch das Rückfenster. Sein kalter Blick trifft Helena, stoppt abrupt ihre Schritte. Ein befehlendes Klopfen im Wageninneren hört sie. Der Kutscher lenkt zur Mitte der Chaussee. Kleiner und kleiner wird der schwarze Punkt zwischen den winterlich kahlen Bäumen. So lautlos wie die Böen an den Ästen rütteln, so verhallt das Trappeln der Hufe .

      Helena wirft die Arme hoch. Sie eilt zu dem ins Gebüsch Gestürzten. Eines seiner Hosenbeine tönt rot sein eigen Blut, tränkt einen größer werdenden Fleck. Angst und Entsetzen verzerren sein Gesicht. Hilflos zwinkert er. Seine Pupillen gleiten umher, nehmen Helena gar nicht wahr.

      Keuchende Stimmen nahen. Die Halbwüchsigen, zuvor lenkten sie die Häscher ab, steigen über die schneebedeckte Böschung. Im Lauf noch streifen sie ihre Beutel von den Jacken. Der Größere hockt sich nieder und rüttelt an den Schultern des Gestürzten.

      „Du bist nicht zu uns gerannt“, raunt er vor den wirren Augen, aber ändert damit nichts.

      Der Rotschopf stöhnt nur kurz noch. Bewusstlos sackt er ab, gibt alle Spannung frei, sein Kopf sinkt zur Seite. Eine Beule wächst im Haar hoch auf, knapp vor der Schläfe, dem Ohr.

      Erschüttert sinkt der Kleinere, herangekommen, auf die Knie, kauert mit hängenden Armen daneben. Er schlüpft aus seiner Jacke, bedeckt die blutige Hose, lagert den Kopf in seinen Schoß und stülpt ihm seine Mütze über.

      „Lieber Bruder“, murmelt er leise. „Vater kommt und holt uns auf der Postrunde hier ab.“

      Sein Wispern hallt ringsum in die frostkalten Böen, und erzeugt in Helena ein grausiges Erkennen.

      „Marthas Söhne seid ihr? War der andere auch ein Bruder?“

      „Nee, der ist von Bansin. Wir wechseln ab, wer aufpasst.“

      Auf und ab blickt er mit weiten Augen, vom Kopf im Schoß zu Helena, die eigentlich auf mehr wartet.

      „Wohin habt ihr denn aufgepasst? Eure Warnung kam zu spät, Betrunkene waren das keine! Ich kann kaum glauben, wie naiv ihr seid! Nun wisst ihr, wie das Leben spielt! Euer Bruder wird sich obendrein unterkühlen.“

      „Soll ich ihn wach machen?“ Er klatscht ihm sogleich seine kleine Hand auf die Wange.

      „Lass! So merkt er nicht, wenn wir ihn verfrachten müssen“, erwidert der größere Bruder, der schon aufspringt, sich umschaut in beiden Richtungen. Er scharrt mit dem Fuß im Schotter und reckt das Kinn, gerade so als mache ihm der Vorfall nichts aus, doch zucken seine Lider.

      „Wir wurden nie ausgeraubt. Der Bansiner bezieht Prügel zum ersten Mal. Pech, die zahlen keinem von uns ein paar Pfennige.“

      „So kaltschnäuzig? Du warst doch auf ihn angewiesen! Hätte dich treffen können.“ Helena knotet ihr Kopftuch ab, reicht es ihm und lächelt aufmunternd. „Bevor das Warten kein Ende nimmt, und er noch mehr Blut verliert, lege ihm einen Pressverband an. Das lerne aus eurer Misere. Roll deinen Beutel als Kompresse fest zusammen.“

      Er scharrt abwägend im Schotter. So oder so haben ihm die Freundinnen der Mutter nichts zu sagen. Doch ein Glück im Pech fühlt er, als seine gesammelten Bernsteine wie Hagel prasseln, hinein in den Beutel des Bruders. Er kniet sich gehorsam neben das blutige Hosenbein, und vermeidet es, genauer hinzusehen.

      Nach einer halben Stunde des Bangens galoppieren die Pferde der Postkutsche endlich heran. Die zügelt der Fahrer im Nähern. Helena sieht er an, seine Söhne. Steifbeinig steigt er ab und nimmt den Verletzten in die Arme, hebt ihn in die Kutsche.

      „Wärmt ihn mal“, keucht er, rau vor Zorn, durch die Zähne.

      Helena mag sich nicht vorstellen, wie er auf der Fahrt heim wüte, der Morgen des Sammelns von aus der Ostsee ausgewaschenen Bernsteinen hätte seinem Sohn das Leben kosten können. Sie eilt heim, bei jedem Schritt bemüht, die Begegnung zu vergessen.

      Während sie die Hintertür öffnet, drängt schon eine Gewissheit ihrer selbst in Helena auf. Und Mut für die Stiege in der Vorratskammer, um hinaufzusteigen unters Dach, selten benutzt im Winter.

      Dumpf im Schulterschlag, stemmt Helena die Bohlentür auf in den Dämmer der Sparren, und hockt sich am Giebelfenster vor die Seemannstruhen, öffnet die ihre. Darin lagern in der Schatulle Urahnin Elis Segeltuchbeutel, von ihr an der Landverbindung der Halbinsel Hela mit Bernsteinen gefüllt.

      Gedankenvoll schaut Helena auf den geheimen Schatz, zu dem ihre Mutter riet, er halte die Sorge um das nächste Stück Brot fern. Verbrauchen dürfe sie etliche Bernsteine, sollte neue sammeln, sobald sie könne. Den Schatullendeckel mit der Rosette streichelt Helena wissend, nach dem Sturm sei eine gute Zeit zu sammeln. Ein Finger zentriert sich am Mittelstein der Rosette, am Ritzmuster der Rune, und spürt, mehr als erkennbar im wenigen Licht vom Fenster, die Kerben des seltsamen Zeichens. Ungleich lange drei Linien, spitz über Eck stehen sie über Kopf, als würden sie den Urquell des Bernsteins anheben, und zum Sieg über die Not verhelfen.

      So winzig fein ihre Macht, dankt nun Helena still dem Urgroßvater, auf seinen Handelsreisen nutzten ihm die Runen. Ihr eröffnet der Moment, was ihr Herz für nötig zu erkennen erachtet.

      Helenas schmale kalte Hand streichelt vorne den Deckelrand. Ritzmuster an drei Steinen verlaufen in ungleichen Formen, und vermitteln der sinnlichen Weite ihres Herzens den Anblick unermesslicher Tragkraft. Rechts am Eckstein sind Kerben dem Mittelstrich jeweils unten und oben angefügt, weisen spitz nach außen wie bei einem Haken, der etwas aufhängen und erfolgreich tragen kann, etwas sehr leicht auswechselbares. Helena sieht spontan die immergrünen Zweige der Eibe, spitze Nadeln. Tief drückt das Bild in ihre Seele, und vor die Hindernisse vor dem Erfolg mit ihren Stofftieren. Doch wie das Immergrüne und deren Duft, atmet sie den Anblick der Rune ein. Sie schöpft Mut zum Erfolg aus ihrer Zukunft und aus fernen Orten, an denen Wunder geschehen.

      In der Ecke unten links liegt ein Stein, dessen Linien ihr unheimlich sind. Mystisch kreuzen dort zwei Mittelbalken die lange Kerbe. Wie schon oft, kreiseln sie Helena vor Augen. Not steigt ihr auf, sperrt als Kloß den Hals. Zuerst. Den Kloß zerschlägt kraftvoll ihre Atemwärme. Notstand muss ausgeräumt werden, Schutz und Geborgenheit sollen innen leben. Wie das Licht eines klaren Eiskristalls kann ihr Unbeschwertheit dazu verhelfen. Bald betrachtet sie genauestens die Mitte der Deckelkante, darin den Bernstein mit kreuzenden Linien zwischen aufrechten Kerben, ähnlich einer Fahne, seitlich weist ein Dorn nach links. Helena richtet sich aus, wächst ein Stück in diese Bindung hinein, die sie vorhat. Und sie räumt aus, was in ihr noch von dem Unnötigen im Gemüt sie bremst und zwickt, als gäbe ihr gerade diese Rune die Resonanz auf kommenden Geldsegen.

      Helena versteht es, klappt den Deckel zu und drückt daneben Joos’ Truhe auf, ertastet Dokumente und eine sperrige Socke. An der abgewetzten Ferse lugt Papier hervor. Sie legt den Strumpf auf ihren Schoß. Tiefer im Truheninneren tupft sie auf einen zweiten, nachgiebig voll. Sie löst den Knoten, und steckt die Hand hinein. Leichte Bernsteine rieseln, deren Leuchten sie ahnt.

      Plötzlich sieht sie Joos an der Tür auf Socken, und hört ihn verdreht reden von seinem Notgroschen. Die Not haue ihn aus den Socken, und, wer ohne Schuhe gehe, stehe unter einem schlechten Omen, würde sich bald keine mehr leisten können. Doch das war oft gehört, und jetzt sowieso nur lästig und hinderlich. Sie verscheucht ihn mit