›Hey Fantasie!‹, rief laut die Frechheit dazwischen. ›Wie soll der Gute denn nun sein?‹
Ich schlug von der Fantasie inspiriert eine neue Seite auf und begann niederzuschreiben, was sie mir sehr leise in mein Ohr flüsterte, damit der Verstand nichts mitbekam und dann wie immer zu widerlegen versuchte. Sie war offensichtlich noch in Märchenstimmung und flüsterte: ›Ein Kamel soll er haben und Augen, so leuchtend und schwarz, wie türkischer Kaffee, auf den die Sonne scheint. Vielleicht auch so heiß‹, sie kicherte, ›du weißt schon. Er sollte die Wüste so sehr lieben wie du. Er ...‹
Zwei Beduinen, die hintereinander das Wadi hinauf geritten kamen, unterbrachen die Fantasie. Sie wurde von der Harmonie und der Muse übertönt, die aus einem Munde riefen: ›Welch schönes Bild!‹
Wohl wahr: wie auf einer Postkarte. Der Blick auf das Meer, eingerahmt durch die Berge an den Seiten, das Dorf mit Palmengärten davor und genau in der Mitte die beiden Beduinen auf ihren Kamelen. Die Männer sahen mich wohl, denn sie schwenkten nach rechts und ritten hintereinander direkt auf mich zu.
»Hi!«, begrüßte mich der zuerst Angekommene salopp.
»Salam alleik!«,Friede sei mit dir!, antwortete ich freundlich.
»Bist du allein hier?«, fragte er weiter auf Englisch.
»Ja, es ist so ein schöner Morgen«, erwiderte ich.
»Alle Morgen in den Bergen des Sinai sind schön«, retournierte der Araber stolz. »Ich und mein Freund gehen weiter das Wadi hoch und machen dort Tee. Wenn du magst, komm doch nach.«
Inzwischen war sein Freund bei uns angelangt. Er hielt sein Kamel etwas versetzt hinter dem anderen an. Vielleicht wegen des Windes hatte er sein rot-weißes Beduinentuch verhüllend vor sein Gesicht gebunden, dass ich jetzt, da er mich anschaute, nur seine Augen sehen konnte, die mich absolut unerwartet in eine völlig andere Dimension schossen.
Alles um mich herum existierte auf einmal nicht mehr. Es gab nur noch seine und meine Augen. Ich konnte meinen Blick nicht lösen und fühlte mich wie hypnotisiert. Fackeln schienen sich in meinem Inneren zu entzünden, um kurz darauf von Eiswasser gelöscht zu werden. Keine Gedanken konnten der Explosion von Empfindungen standhalten. Sie wollten alle gleichzeitig rufen, warnen, jubeln und schreien. Dieser durchdringende Blick jedoch schnitt mir die Luft ab und alle verstummten.
Er unterbrach dann zuerst den Kontakt und das einzige Wort, das sich wieder mühsam aus dem überraschenden Inferno formen konnte, war: »Wow!«
Die Faszination war es, die sich als erste artikulierte. Mein ganzer Körper hatte sich verändert. Alle Muskeln waren elektrisiert. Ich hatte die Luft wohl zu lang angehalten und merkte, dass mir schwindelig wurde. Versuche zu schlucken scheiterten kläglich. Mein Mund war so trocken wie ein Stoppelfeld nach einem Flächenbrand.
›Tee wäre gut jetzt‹, meldete sich auch mein Verstand zurück.
»Lesch la«, warum nicht, antwortete ich daher mit zittriger Stimme auf das Angebot ein Glas Tee betreffend. »Ich komme gleich nach.«
Meine Äußerung erschien mir wie die Antwort auf eine Frage aus einer anderen Zeit. Waren tatsächlich erst Sekunden inzwischen vergangen? Als ich aufstehen wollte, um mein Kamel zu holen, wurde mir schwarz vor Augen. Dieser Blickkontakt gerade schien all meine Energie absorbiert zu haben. Nach einigen meditativen Atemübungen ging es mir besser. Ich erhob mich noch immer etwas benommen und verwirrt von meinen Gefühlen.
›Wie gerufen!‹, meldete sich die Fantasie zurück. ›Das ist er! Wenn der Rest des Gesichts genauso feurig ist, versteht sich.‹
›Du hast Ideen, Du glaubst wohl immer noch an die Liebe auf den ersten Blick. Weißt du, wie der Duden dich, Fantasie, beschreibt? Ich sag es dir: Illusion, unerfüllbares Wunschbild, unwirkliche, oft unklare Vorstellung oder Gedanke und außerhalb der Wirklichkeit oder im Widerspruch zu ihr stehend. Und damit hat er vollkommen Recht‹, wetterte die Vernunft sofort.
›So sehe ich das auch‹, sprach die Vorsicht.
›Aber anschauen können wir uns ihn doch mal‹, versuchte die Neugierde zu vermitteln und hatte wie schon oft die Entscheidungsgewalt.
Mit meinem Kamel im Schlepptau erreichte ich ihren Rastplatz. Der Beduine, der mich eingeladen hatte, war allein und traute offensichtlich seinen Augen nicht.
»Ist das dein Kamel?«, fragte er mich skeptisch und zog die Augenbrauen hoch.
Ich nickte und lächelte, legte Abjad wieder die Fußfessel um und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf sein prächtiges Hinterteil, damit er loszog, um sich zu nähren.
»Ich heiße Hamid«, stellte er sich vor und deutete auf eine Wolldecke. »Setz dich doch! Das ist aber nicht wirklich dein Kamel, oder?« fragte der Beduine nochmals und sein Unglaube stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Eine Frau besitzt bei den Beduinen normalerweise Ziegen oder Schafe, aber keine Kamele.
›Und du bist nicht einmal eine Beduinin!,‹ stellte die Erkenntnis munter fest.
Als ich seine Frage wiederholt bejahte, war er erst sichtlich verwirrt, dann begeistert und lobte zuletzt die Vorzüge dieser Tiere.
Der Tee war fertig und Hamid reichte mir ein Glas. Während ich das heiße, süße und gerade sehr wohltuende Getränk langsam schlürfte, machte ich mich ungeniert daran, Hamid über den Mann mit den glühenden Augen auszufragen, der sich anscheinend zu Fuß davon gemacht hatte. Sein Kamel stand allein am Berghang.
»Wo ist denn dein Freund hin?«, wollte ich wissen.
»Samir? Der ist dort hinauf.« Er zeigte auf einen kleinen Pfad, der sich hoch in die Berge zog. »Samir fastet. Er hält den Ramadan ein. Schon der Blick auf oder der Gedanke an eine Frau ist wie Essen, Trinken und Rauchen bis zum Sonnenuntergang verboten. Es wäre nicht gut für ihn, wenn er hier mit uns sitzt.«
›Schade aber auch!‹, schmollte die Neugierde.
»Kommt ihr aus Dahab?«, fragte ich schnell, um meinen Gedanken keine Zeit für weitere ungehörige Kommentare zu lassen.
»Ich ja, aber Samir ist erst seit kurzem hier, seine Familie wohnt in Feranje, einer kleinen Siedlung, kurz vor Santa Katherina. Er will hier mit seinem Kamel arbeiten, Safaris veranstalten und Ähnliches.«
›Ein echter Beduine also‹, freute sich mein Feingefühl.
Da ich mittlerweile viele Beduinen kennengelernt hatte, war mir bewusst geworden, wie rasant diese sich veränderten, sobald sie viel Kontakt mit dem Tourismus hatten. Der Ausdruck ihrer Augen veränderte sich. Der Blick verlor einen Teil seiner Erhabenheit. Ich hatte mir schon einige Male, wenn ich Menschen traf, die in der Wüste lebten und nur kurzzeitig in touristischen Gebieten verweilten, darüber Gedanken gemacht, woran das liegen könnte. Bei diesen Beduinen war mir ein ganz besonderer, aus dem Inneren kommender, Glanz in den Augen aufgefallen. Vielleicht war es so, weil sie in der Wüste alles kannten und wussten, sich in der sogenannten Zivilisation, von Touristen umgeben, jedoch zurückgesetzt fühlten; vom Fortschritt außer Acht gelassen. Der erhabene, stolze Blick, dessen Ausstrahlung mich faszinierte, wich in der Auseinandersetzung mit der anderen Welt einem unsicheren Blinzeln.
Dieser fastende Beduine hatte den Stolz in seinen Augen bewahrt, und das war es, was mich von der ersten Sekunde an bezaubert hatte. Hamid redete über alles Mögliche, aber meine Gedanken und Augen schwebten in eine andere Richtung; zu den Bergen, in denen der umwerfende Fremde verschwunden war.
›Glaub mir, es gibt sie‹, wisperte die Fantasie wieder leise.
›Jetzt hör auf mit dem Blödsinn‹, schaltete sich der Realitätssinn ein, ›Liebe ist etwas, das langsam wachsen muss und fällt einem nicht einfach in den Schoß.‹