Kapitel 3: Das Erbe
Dass Anna mit Nathan wider Erwarten einen Hauptgewinn gezogen hatte, sahen auch die anderen so. Nicht jedem gefiel das. Als es zur Pause klingelte und alle nach draußen gingen, rempelte der bullige Lorenz Anna mit Absicht an.
„Da hat unsere Elite-Prinzessin ja mal wieder verdammtes Glück gehabt. Oder ist das vielleicht gar kein Zufall?“, zischte er ihr zu.
Anna tat so, als hätte sie die Bemerkung nicht gehört. Da Nathan direkt neben ihr herlief, hatte er jedes Wort mitbekommen und sprach sie direkt darauf an.
„Was hat er damit gemeint, warum bist du eine Elite-Prinzessin? Ich dachte, mehr als Elite geht nicht.“
„Ach, das ist nur so ein Familiending“, versuchte Anna das Ganze runterzuspielen.
„Moment, dein Nachname ist doch Baum. Bist du etwa verwandt mit Marie Baum? Mit der Marie Baum?“
Mist, Volltreffer. Dieser Nathan war nicht blöd. Aber es war ja auch nicht so schwer, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
„Ja, das ist meine Großmutter.“
„Ah, verstehe.“
Eigentlich erwartete Anna jetzt das, was immer an dieser Stelle einsetzte: Ehrfürchtiges Staunen, gefolgt von Neid. Sie war die Enkelin einer der ersten Klima-Aktivistinnen Deutschlands. Einer Frau, die sich noch selbst an die Tore der Autokonzerne gekettet hatte, die die Partei des Wandels mitgegründet hatte und die nach dem Tipping-Point im Klima-Rat die Gesellschaftsreform mitgestaltet hatte. Jedes Kind kannte Ihren Namen. Denn ihre Großmutter gehörte zur ersten Generation der Klima-Elite. Sie hatte schon vor der großen Umstellung ein klimaneutrales Leben geführt – keine Flugreisen, kein Plastik, keine neue Kleidung, eine rein vegane Ernährung und Trinkwassernutzung ausschließlich zum Durststillen und nicht für so profane Dinge wie Körperhygiene, Wäsche waschen oder gar Toilettenspülungen. Für solche Bedürfnisse wurde ausschließlich gereinigtes Sekundärwasser verwendet. Annas Mutter, Marie Baums Tochter, hatte diese freiwillige Selbstbeschränkung gehasst. Denn diese Vorgaben – das Kosmetikverbot, die hässliche Ökokleidung und die eingeschränkte Mobilität ohne Auto – hatten Annas Mutter zur Außenseiterin gemacht. Jahrzehnte später jedoch sicherte Marie Baums Vorreiterrolle der ganzen Familie das privilegierte Leben im A-Sektor. Davon profitierte auch Anna, denn die Zuteilung des Wohnortes galt für alle folgenden Generationen. Das alles war natürlich lange vor Annas Geburt. Für sie war ihre Großmutter einfach nur ein großes, aber eben auch ein sehr fernes Vorbild gewesen. Während Marie Baums Tätigkeit im Klima-Rat hatte Anna ihre Oma öfter im Fernsehen gesehen als zu Hause. Erst nach ihrer aktiven Zeit war sie häufiger zu Besuch gekommen und hatte ihrer Enkelin spannende Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Das hatte bei Anna natürlich den Wunsch geweckt, selbst auch eine Klima-Aktivistin zu werden.
Normalerweise stellten alle sofort Fragen, wenn sie erfuhren, dass Anna eine so bekannte Großmutter hatte. Wie es denn gewesen sei, mit einer berühmten Oma aufzuwachsen und so weiter. Anna mochte das nicht. Es war ihr einfach unangenehm. Und sie hatte keine Lust, mit Fremden über ihre Großmutter zu sprechen. Zu kostbar waren die wenigen private Momente, die sie mit ihr erlebt hatte, bis sie vor drei Jahren gestorben war. Seltsamerweise schien Nathan das zu spüren. Er hakte nicht nach, sondern fragte stattdessen:
„Das ist doch toll, warum zieht dich dieser Lorenz denn damit auf? Warum hasst er dich?“
Ja, das war es: Hass. Bisher hatte Anna es sich nie so richtig eingestanden. Sie versuchte einfach, ihn komplett zu ignorieren. Dieser Idiot ließ keine Gelegenheit aus, sich über ihren schulischen Ehrgeiz lustig zu machen. Klar, er strebte ja auch kein Studium an, dafür war er viel zu tumb. Aber seine verbalen Attacken gingen eigentlich schon über das normale Maß hinaus. Und sie trafen Anna mitten ins Herz. Denn jedes Mal machte er spitze Bemerkungen über ihre Familie. Lorenz hasste sie wirklich.
„Er ist einfach ziemlich doof. Er schafft es in der Schule nicht. Und er gehört eben nicht zur erblichen Elite.“
„Erbliche Elite? Wow, ich wusste gar nicht, dass es das noch gibt. Okay, da kann schon mal Neid aufkommen. Aber eigentlich muss er sich doch keine Sorgen machen. Er hat ja ziemlich viele Muskeln. Da will er wohl zur Schutztruppe.“
Nathan hatte es sofort erfasst. Genau das war der Plan, um sich einen lebenslangen Aufenthalt im A-Sektor zu sichern. Lorenz würde der Familientradition folgen und wie sein Vater und seine Mutter zur Sektoren-Schutztruppe gehen. Das erforderte eigentlich nur eins: Körperliche Fitness. Die schulischen Leistungen mussten nur halbwegs okay sein, was zählte, waren Bestnoten im Sportunterricht. Damit konnte sich jeder lebenslang für die Arbeit bei der Schutztruppe verpflichten. Mit Schutzanzug, Atemmaske und schwerer Bewaffnung sorgten die Truppler dafür, dass der Verhaltenskodex im B- und C-Sektor durchgesetzt wurde. Diese Jobs waren A-lern vorbehalten. Nicht, weil die allermeisten B-ler die harten Eignungstests nicht bestehen würden. Vielmehr hatte sich in der Vergangenheit gezeigt, dass B-ler die Gesetze nicht konsequent genug angewandt hatten. Freunde, Kinder, Alte – die Schutzwächter aus dem B-Sektor machten zu viele Ausnahmen, Ausnahmen, die nicht erlaubt waren. Solche Interessenkonflikte kannten A-lern nicht. Und Anna war sich sicher, dass Lorenz auch nie in Versuchung geraten würde, aus Mitleid etwas Unerlaubtes zu tun. Die Sektoren-Schutztruppe war ein Sammelbecken für alle A-ler, die keine Klima-relevanten Jobs ergattern konnten. Einige, wie die Eltern von Lorenz, waren aber auch aus Überzeugung dabei. Einen Nachteil gab es allerdings: Trotz der guten Ausrüstung wurden viele Schutzkräfte nicht alt. Zu oft waren sie schädlichen Umwelteinflüssen im B- und vor allem im C-Sektor ausgesetzt. Aber wer es schaffte, sechzig zu werden, durfte den Rest seiner Dienstzeit im A-Sektor verbringen, um einfache Polizeiarbeit zu verrichten. Anna kannte Schutzkräfte eigentlich nur als nette ältere Herren, die darauf achteten, dass kleine Kinder ihre Atemmasken richtig aufsetzten und mit den dazugehörigen Müttern über die neuesten Filtertechniken plauderten. So einer würde Lorenz hoffentlich nie werden.
Sie nickte Nathan zu und meinte achselzuckend:
„Für mehr reicht es einfach nicht.“
Dabei versuchte sie ihre ganze Verachtung in diesen kurzen Satz zu legen. Nathan verstand sie sofort, denn er zitierte aus dem Bürger-Verhaltenskodex:
„Jeder an seinem Platz und jeder nach seinen Fähigkeiten.“
Doch irgendwie schwang bei ihm auch etwas Bitterkeit mit. Nein, eigentlich war es vorwiegend Bitterkeit. Seltsam. Der Verhaltenskodex war kurz nach dem Systemwechsel in Kraft getreten. Er war das erste, was Kinder in der Kita lernten. Jeder konnte die zwölf Punkte im Schlaf herunterbeten. Bisher war Anna nie auf die Idee gekommen, den Kodex in Frage zu stellen. Schließlich diente er dem höchsten Gut, dem Allgemeinwohl. Und er hatte sich bewährt. Nur dank ihm war Deutschland gut durch den Klimawandel und die Jahrzehnte des Umbruchs gekommen. Während andere Länder in Chaos und Anarchie versanken, hatte der Kodex hier für Stabilität gesorgt. Nach der Einführung hatte es keine Aufstände mehr gegeben, die Verteilung der Ressourcen, die sich aus dem Kodex ergab, wurde von allen akzeptiert. Natürlich gingen auch in Deutschland die Bevölkerungszahlen zurück. Aber das war mehr auf die Pandemien zurückzuführen, nicht auf Hungerperioden wie in so vielen Nachbarstaaten. Daran bestand kein Zweifel. Doch jetzt, im Gespräch mit diesem ungewöhnlichen B-ler, stellte Anna sich zum ersten Mal in ihrem Leben die Frage, ob diese Vorgabe – Jeder an seinem Platz und nach seinen Fähigkeiten – wirklich richtig war. Nathan, da war sie sich plötzlich ganz sicher, stimmte zumindest in diesem Punkt nicht mit der herrschenden Meinung überein. Diese Vorstellung jagte Anna einen Schauer über den Rücken. Unwillkürlich schaute sie weg, damit Nathan nicht ihren Gesichtsausdruck