Scheu lächelnd setzte sich Mia neben Paul. Der begrüßte sie mit der ihm eigenen stoischen Ruhe und einem kurzen Nicken. Nun nahm Nathan neben Anna Platz. Er musterte sie verblüffender Weise ganz unverhohlen. Das verunsicherte Anna kurz. Für einen aus dem B-Sektor war das schon richtig frech. Der Test fiel offenbar positiv aus. Mit einem hauchzart angedeuteten Lächeln sagte er „Hi“ und ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen. Ziemlich unbefangen, na, das war ja mal etwas Neues. Dann ging es auch schon mit der Aufgabenverteilung los.
„Heute gebe ich die Themen für die Hausarbeit aus. Denkt daran, dass sie ein Drittel eurer Geschichtsnote für das erste Halbjahr ausmacht. Also gebt euch Mühe. Fangen wir mit dem ersten Team an: Anna und Nathan, ihr werdet euch mit der Einrichtung des Klima-Rates direkt nach dem Tipping-Point beschäftigen. Mia und Paul, ihr bildet ja jetzt ein Team. Ihr übernehmt die Einführung der Pandemie-Protokolle direkt im Anschluss. Die ersten beiden Klima-Kriege sind das Thema von Klara und Lorenz. Beachtet vor allem die Folgen der Lebensmittel-Rationierungen. Die Klima-Kriege drei und vier bearbeiten Jule und Max. Leon und Sophie: ihr beschäftigt euch mit der Restrukturierung der Landwirtschaft während des ersten Dürrejahrzehnts, Florian und Benjamin übernehmen die Umstellung der Energieproduktion während des gleichen Zeitraums, …“
Während Frau Meier weiter ihre Lister runterratterte, dreht sich Anna verblüfft zu Nathan. Auch er hob die erstaunt die Augenbrauen.
„Das sind doch Sechstklässler-Themen, was soll das?“, flüsterte er.
Sie zuckte mit den Schultern und antwortete in gedämpfter Lautstärke: „Keine Ahnung. Das Zeug haben wir schon tausend Mal durchgekaut.“
Doch das war offenbar nicht leise genug. Frau Meier war auf sie aufmerksam geworden.
„Anna, gibt es Fragen?“
„Die Themen sind doch viel zu einfach. Was sollen wir denn da schreiben?“
„Nun, ich war mit meinen Ausführungen noch nicht ganz zu Ende. Sie werden dieses Mal nicht, wie sonst, in der deutschen Enzyklopädie nach Fakten suchen, sondern in den Primärquellen. Ich will in ihren Arbeiten nur Original-Zitate lesen. Alle aufgeführten Fakten müssen mit einer Primärquelle belegt werden.“
Ein Raunen ging durch die Klasse.
„Primärquellen? Nicht online? Sie meinen Bücher und so etwas?“
Anna konnte es nicht fassen. Das hatten sie noch nie gemacht. Und sie hatte auch gar keine Lust, in staubigen alten Büchern nach Informationen zu suchen, die sich mit einem Klick in der offiziellen Enzyklopädie finden ließen. Frau Meier fand ihre Fassungslosigkeit offenbar höchst amüsant, sie lächelte.
„Ja, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Es ist ja noch alles da, sie müssen nur in die Zentralbibliothek im B-Sektor gehen. Das ein oder andere finden Sie vielleicht auch in der Schulbibliothek. Sie dürfen auch gerne Zeitzeugen befragen, wenn sie welche finden. Das gibt dann Extrapunkte. Eine Geschichtsarbeit in der Oberstufe erfordert nun mal etwas mehr Aufwand und intellektuelle Anstrengung, Anna.“
Aus den Augenwinkeln konnte Anna erkennen, dass Nathan inzwischen breit grinste. Er bemerkte ihren Blick und raunte ihr zu:
„Na, da bist du doch genau im richtigen Team gelandet, oder? Für ein Abenteuer im B-Sektor bin ich doch die perfekte Begleitung. Keine Angst, ich pass auf, dass dich niemand auffrisst.“
Wieder dieses freche Lächeln, dieses Mal wurde es sogar noch von einem Augenzwinkern begleitet. Der Scherz war geschmacklos. In den Zeiten der ersten Essensrationierungen war es wirklich vorgekommen, dass A-lern von Ausflügen in den B-Sektor nicht zurückkehrten. Damals hatte es Gerüchte gegeben, dass der Hunger die Menschen in den besonders verrufenen Vierteln des B-Sektors, jenen, die nah an der Grenze zur gesperrten C-Zone lagen, zu Kannibalen hatte werden lassen. Gut genährte A-ler, die sich unvorsichtiger Weise in diese Gebiete begeben hatten, sollen angeblich ihre Opfer gewesen sein. Von offizieller Seite wurde das immer dementiert. Aber die Geschichten über verschwundene Bürger hielten sich hartnäckig. Das war natürlich längst Vergangenheit, die Nahrungsmittelengpässe gehörten glücklicher Weise der Vergangenheit an. Anna konnte solche Bemerkungen trotzdem nicht leiden. Wie viele A-lern hatte sie nämlich immer ein ungutes Gefühl, wenn sie in den B-Sektor fuhr. Das war ja auch kein Wunder. Die schlechte Luft, der Schmutz überall und die vielen Menschen auf zu engem Raum stellten schließlich ein sehr reales Gesundheitsrisiko dar und das war alles andere als attraktiv. Aber Angst? Nein, Angst hatte sie nicht. Das konnte der Neue ruhig wissen. Deshalb zuckte sie betont lässig mit den Schultern und ging zum Gegenangriff über.
„Wenn, dann bist ja wohl du die attraktivere Beute. An dir ist viel mehr dran. Da werde wohl eher ich dich beschützen müssen.“
Das saß. Nathan war für einen aus dem B-Sektor tatsächlich sehr groß gewachsen und auch kräftig. Fast so, als hätte er als Kind das besonders nahrhafte Gesundheitsplus-Essen bekommen. Das konnte aber eigentlich nicht sein. Ihre verbale Attacke schien Nathan keinesfalls einzuschüchtern. Er war zwar kurz verblüfft, aber dann breitete sich wieder ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
„So, du findest mich attraktiv? Na, danke für das Kompliment. Hab‘ ich mir gleich gedacht, dass wir uns gut verstehen.“
Oh, das war also ein Test gewesen. Immerhin, sie hatte ihn bestanden. Aber komisch war die ganze Sache schon. So ungern sie es sich eingestand, Nathan hatte, verdammt nochmal, Recht. Was für ein seltsamer Zufall, dass sie ausgerechnet kurz vor dieser Hausarbeit Nathan