Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: S. G. Felix
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738095289
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deine Gabe erforschen. Du musst herausfinden, was deine Bestimmung ist. Irgendetwas an dir ist besonders. Das musst du ergründen. Nur so kannst du dem Bösen entgegentreten. Und ich glaube, dass es mit deiner Vergangenheit zu tun hat. Die Vergangenheit, an die du dich nicht mehr erinnern kannst.

      Das Orakel. Es wird dir bei deiner Suche helfen. Finde das Orakel, dann findest du auch deine Gabe. Sie wird deine einzige Waffe gegen Koros sein.«

      Brelius kramte in seiner Hosentasche und zauberte einen dunklen Stein hervor. Er sah aus wie ein schwarzer Kristall.

      »Das hier ist der Rest des Schlüsselsteins, der mich hierher führte. Er ist zerbrochen, als ich ihn benutzt habe, um das Zeittor zu öffnen. Dieses Bruchstück wird dich in das eigentliche Herz von Verlorenend führen. Dort lebt das Orakel. Ich habe ihm versprochen, dass du kommst.«

      Antilius nahm den Stein an sich und drehte ihn zwischen seinen Fingern. »Eure Tochter macht sich große Sorgen um Euch. Sie erwartet Euch zurück«, sagte er.

      »Ich wünsche mir nichts sehnlicher auf der Welt, als sie wiederzusehen. Aber ich muss mich hier verstecken.«

      »Ihr werdet sie wiedersehen.«

      Antilius konnte in den Augen des alten Mannes sehen, dass er die Hoffnung, seine Tochter noch einmal wiederzusehen, aufgegeben hatte. »Es wird Zeit. Du musst jetzt gehen. Die Späher suchen bereits nach dir«, sagte Brelius.

      »Und was werdet Ihr machen?«

      »Ich werde versuchen, die Späher abzulenken, wenn sie hier doch noch aufkreuzen sollten. Es könnte ja sein, dass sie deine Spur verfolgen, und das muss ich verhindern.«

      »Lasst Euch nicht erwischen, Herr Vandanten.«

      »Keine Sorge. Finde das Orakel, Antilius«, sagte Brelius aus trüben Augen.

      Antilius verließ schließlich den alten Mann, der gegen den Verlust seines Verstands ankämpfte.

      Er ging durch die sternenerfüllte Nacht eines Ortes im Nirgendwo. Und er ging zu einem Ort im Irgendwo.

      Der Stein wies ihm den Weg. Er fing an zu leuchten, wenn er die richtige Richtung einschlug und lotste ihn wie ein Kompass. Der Stein war ein Stück des Avioniums.

      Dieses verfluchte Zeug, dachte Antilius missmutig.

      Als er den Spiegel von Gilbert aus seiner Hosentasche hervorholte und dabei in der anderen Hand den Stein hielt, fiel ihm ein seltsames Leuchten über der Spiegeloberfläche auf. Es sah aus wie eine winzige Nebelwolke, die aus dem Spiegel hervorquoll.

      Antilius fiel prompt ein, was Brelius in seinem Tagebuch erzählt hatte. Nämlich, dass das Avionium die Schwerkraft beeinflussen konnte. Und dann dachte er daran, dass Koros das Portal in den Ahnenländern aufbauen wollte, weil dort vermutlich das Avionium aus dem Adler-Gebirge seine gebündelte Energie auf das Portal irgendwie übertragen würde. Wenn das Avionium dies alles fertig bringen konnte, konnte es dann auch das Spiegelgefängnis öffnen? Schließlich war es auch eine Art Portal.

      Antilius hielt den Stein dichter an den Spiegel heran und tatsächlich vergrößerte sich die leuchtende Nebelwolke. Doch mehr geschah nicht.

      Antilius steckte den Stein nachdenklich ein und sah in den Spiegel. Gilbert schlief in seinem Bett. Er hatte das Gespräch mit Brelius nicht mehr verfolgt. Die Müdigkeit hatte ihn überwältigt.

      Antilius weckte ihn auf und erzählte ihm, was er gerade eben herausgefunden hatte. Gilbert war schläfrig und schien fast gar nicht sonderlich interessiert an der besonderen Entdeckung mit dem Avionium zu sein. Er erklärte nur, dass er sich nicht daran erinnern könnte, wie er in den Spiegel eingesperrt worden war, weil er zu diesem Zeitpunkt bewusstlos gewesen sei. Deshalb konnte er auch nicht bestätigen oder verneinen, dass das Avionium der Schlüssel zur Freiheit sein könnte. Sein scheinbares Desinteresse rührte von der Tatsache her, dass er sich schon so viele Male während seiner Gefangenschaft falsche Hoffnungen gemacht hatte, aus seinem Gefängnis entkommen zu können.

      »Dass ich mal endlich hier rauskomme, ist einfach zu schön, um wahr zu sein«, sagte er gähnend und resigniert.

      »Wer weiß«, sagte Antilius und ging die letzten Schritte Richtung Verlorenend.

      Die Tage gingen vorüber. Antilius merkte davon nichts, weil er sich, seit er in das Zeittor bei den Largonen gegangen war, nicht mehr im normalen Zeitgefüge befand.

      Jemand anderes bekam die Zeit dagegen deutlich zu spüren:

      Wrax’ Augenhöhlen wurden von Tag zu Tag dunkler. Er war ununterbrochen damit beschäftigt, die Weisungen seines Ersten auszuführen. Kein Zweifel, Koros hatte Großes im Sinn. Daran wagte Wrax nicht eine Sekunde lang zu zweifeln. Immer neue Ideen kamen dem Herrscher in den Sinn, immer neue Pläne, neue Strategien, wie er die bevorstehende Schlacht gegen die Dreizehn Häuser der Ahnenländer für sich entscheiden wollte.

      Sein Berater hatte die Aufgabe, so viele Sympathisanten wie möglich zu sammeln, egal woher sie kamen. Eine große Armee sollte entstehen. Wrax hatte in allen Städten für die Pläne seines Ersten werben lassen. Mit Erfolg. Es gab viele, die einen Groll gegen die Dreizehn Häuser hegten. Sie hatten den Ruf, von arroganten, selbstgefälligen Schwächlingen regiert zu werden. Sie lebten in verschwenderischem Luxus, besaßen Essbesteck aus Gold, hieß es. Dekadent.

      Nichts davon entsprach den Tatsachen, aber es war für Koros eine willkommene Propaganda.

      Die meisten Rekruten sammelte Wrax jedoch in den Finsteren Ebenen. Eine üble Gegend im Nordosten, um die man besser einen großen Bogen machen sollte, wenn einem das eigene Leben lieb war. Denn Leben hatte dort nur wenig Bedeutung. Und das war auch gut so. Koros brauchte Söldner, die für ein paar Münzen ihr Leben hingaben. Ohne zu überlegen. Ohne zu zögern.

      In den Finsteren Ebenen gab es vorwiegend nur Wegelagerer, Plünderer, Meuchler und dazu noch all jenes Getier, das einem sonst nur beim Schlafen in einem Albtraum begegnet.

      Und so schwer es Wrax auch fiel, er musste sie rekrutieren. Insbesondere die Gorgens, die eine eigene Stadt in den Finsteren Ebenen, in Küstennähe im Nordosten von Truchten, gegründet hatten. Die Gorgens waren in den Augen von Koros die Qualifiziertesten unter dem ganzen Abschaum, den Wrax für seinen Ersten sammelte. Fast die gesamte Stadt Gorgonia war bereit, dem Herrscher in den Krieg zu folgen.

      Krieg? Nein. So wollte Wrax es nicht bezeichnen. Widerstand war zwar zu erwarten, aber dieser war in Anbetracht der Übermacht, die er zusammentrieb, nutzlos.

      Das hoffte er zumindest.

      Die Tatsache, dass Koros die Ahnenländer angreifen wollte, nicht weil er sie erobern wollte, sondern um das Portal in der Nähe der dortigen Adler-Berge aufzubauen, hatte Wrax während seiner harten Arbeit stets verdrängt. Aber innerlich beunruhigte ihn der Gedanke. Er hatte noch keine Ahnung, was Koros genau anstrebte. Die Zeittore und das Avionium im Adler-Gebirge bei den Ahnenländern - beides konnte er nicht in einen Zusammenhang bringen.

      Er vertraute aber dessen ungeachtet seinem Ersten. Koros war es einst gewesen, der ihn nach seiner Flucht aus der Stadt der Seelenlosen bei sich aufgenommen hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass Wrax wieder Selbstbewusstsein schöpfen konnte.

      Es stellte sich heraus, dass Wrax ein außerordentlich gutes planerisches Geschick besaß, was Koros natürlich förderte und ihn somit zu seinem engsten Vertrauten machte. Es war seinem Ersten egal, ob Wrax ein Mensch war oder nicht, denn das wusste Wrax selbst nicht. Äußerlich sah Wrax eigentlich wie ein Mensch aus. Wenn da nicht seine feuerrot glühenden Augen gewesen wären. Seine Augen, wegen denen er als Kind ständig gehänselt wurde. Sie waren auch der Grund, warum die meisten, denen er in seinem Leben begegnet war, Angst vor ihm hatten. Manche glaubten, er sei eine Ausgeburt eines schrecklichen Dämons. Und manchmal, ja manchmal, da ging es Wrax so schlecht, dass er das sogar selbst geglaubt hatte.

      Doch Koros war es einerlei, welcher Abstammung sein Berater war. Schon allein aus diesem Grunde verbot es sich ihm, seinem Ersten unangenehme Fragen zu stellen