„Meine Mutter ist bei Osiris“, entgegnete das Mädchen. „Mein Vater soll dem zukünftigen Vizekönig in Nubien zur Seite stehen und ich heiße Isis.“
„Isis“, wiederholte Thot-mose den Namen, als habe er ihn noch nie zuvor über die Lippen gebracht.
„Und welches sind eure Namen“, fragte das Mädchen nachdem keiner der beiden Anstalten machte, sich vorzustellen.
„Ich bin Hat- äh, also ich heiße – ich heiße Hathi und das ist mein Bruder Thot-mose.“
„Wirklich? Ihr seid doch fast gleich alt.“
„Thot-mose ist mein Halbbruder. Wir haben verschiedene Mütter. Aber denselben Vater.“
„Aha.“
„Ja, wir sind Bruder und Schwester. Wenn auch nur halb vom Blute, so doch ganz im Herzen.“ Thot-mose strahlte das Mädchen an.
„Und du heißt wirklich wie das Land im fernen Norden“, fragte sie bei Hat-schepsut nach. „Hathi?“
Hat-schepsut nickte stumm.
„Dann bist du bestimmt die Tochter einer Hethiterin, die euer Vater von einem Kriegszug mit nach Hause gebracht hat.“
Hat-schepsut schluckte. „Meine Mutter kommt aus einer Familie, die schon seit Tausenden von Jahren an den Ufern des Nils lebt.“
„Das sagt mein Vater auch immer und er ist der Fürst von Sauti, der Enkel des großen Hep-djefa, der noch von Ah-hotep höchstselbst in den Fürstenstand erhoben worden ist. Also muss euer Vater auch ein Fürst sein. Ich weiß“, rief sie auf einmal voller Begeisterung. „Ihr kommt aus dem Norden. Avaris?“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sie hinzu: „Sagt bloß, euer Vater ist ein übrig gebliebener Hyksos.“
Hat-schepsut lachte lauthals. „Nein!“
„Aus Per Bastet“, fragte das Mädchen weiter und senkte schließlich die Stimme. „Kommt ihr etwa aus dem heiligen Iunu? Oder gar aus Men-nefer?“
„Neee“, grölte Thot-mose völlig verzückt von dem unerwarteten Ratespiel, „wir sind von hier.“ Hat-schepsut schubste ihn unauffällig. „Also aus der Umgegend, genauer gesagt. Aus Sedjefa-taui.“
„Wo ist das denn?“, fragte Isis enttäuscht.
„Eine halbe Tagesreise flussabwärts“, gab Thot-mose zur Auskunft.
„Ach so, dann seid ihr so etwas wie Landadel.“ Zufrieden die beiden entsprechend einordnen zu können, berichtete das Mädchen weiter. „Ich werde nicht lang bei meinem Vater in Nubien bleiben. Ein Jahr oder so. Dann komme ich hierher nach Waset zurück, um die Palastschule zu besuchen. Stellt euch nur vor! Ich werde dann neben dem Thronfolger und der Gottesgemahlin des Amun im Unterricht sitzen.“
Hat-schepsut kicherte und Thot-mose fragte völlig treuherzig: „Na und?“
„Na und?!“, wiederholte Isis verblüfft. „Du tust ja geradewegs so als ob … ‑ Geht ihr zwei etwa in die Palastschule?“
Beide nickten ganz langsam.
„Oh, erzählt, erzählt, erzählt! Wie ist es so im Palast?“ Das Mädchen wurde ganz aufgeregt und rückte näher an Thot-mose heran. “Man sagt, der Duft der königlichen Familie käme dem der Götter gleich.“
Hat-schepsut kicherte albern und Thot-mose warf seiner Schwester einen flehentlichen Blick zu. „Man weiß ja“, erwiderte Hat-schepsut schließlich, „wie schnell man sich an Gerüche gewöhnt. Ich kann es dir also gar nicht sagen, ob es stimmt. Für uns ist es ganz normal wie es dort riecht.“
„Dann geht ihr im Palast ein und aus?“ Die Augen des Mädchens glänzten. „Ich werde heute Abend zum allerersten Mal in den Palast gehen. Ja, ich werde sogar Pharao vorgestellt! Und seiner Großen königlichen Gemahlin sowie dem Thronfolger und der Gottesgemahlin des Amun.“
„Ja“, stöhnte Hat-schepsut gespielt, „und darüber hinaus auch noch General Pen-Nechbet sowie dem Bürgermeister Seni und …“
„Dann sehen wir uns ja heute Abend gleich wieder“, unterbrach Thot-mose seine Schwester und Isis wurde rot, war es doch offensichtlich, dass er sich darüber aufrichtig freute.
„Ihr seid auch geladen?“, fragte sie nach.
„Geladen?“ Hat-schepsut kicherte abermals. „Eher weniger. Wir sind einfach nur da.“
„Einfach nur da, einfach nur da! Niemand ist im Palast einfach nur da. Aber vielleicht seid ihr als Kinder eines Landadeligen ja Fächerträger oder Rauchwerkentzünder. Oder Musiker. Jawohl, ihr seid Sänger. Du bist Sängerin des Amun und dein Bruder macht einen ganz durchgeistigten Eindruck, so dass er sicherlich höfische Liebeslyrik vorträgt.“
“Nein, falsch. Bislang hat er dies jedenfalls noch nicht getan“, lachte Hat-schepsut. „Aber wer weiß, was noch alles kommen mag.“
„Du weißt, dass meine Stimme nicht trägt“, rechtfertigte sich Thot-mose. „Außerdem liegt mir eine derartige Zurschaustellung nicht. Nein, ich werde dich enttäuschen müssen, Isis. Ich werde keine Gedichte vortragen.“
„Na, dann gibt es halt einen anderen Grund, weswegen du bei Hofe bist. Ich lass mich überraschen.“ Isis geriet ins Schwärmen. „Ist ja schließlich einerlei, warum man dieselbe Luft atmen darf wie die königliche Familie. Stimmt es, dass man in ihrer Gegenwart in den Zustand der Glückseligkeit gerät?“
Hat-schepsut lachte abermals und Thot-mose fragte ungläubig: „Wer hat dir denn so etwas erzählt?“
„Alle“, entgegnete Isis erstaunt. „Alle, die schon einmal im Palast waren. Alle waren sie von der Ausstrahlung der königlichen Familie hingerissen und zutiefst beeindruckt.“
„Na, die haben sich wohl eher von all dem Gold und Flitter in Glückseligkeit versetzen lassen“, wandte Hat-schepsut ein.
„Wie kannst du nur so etwas sagen?!“ Isis war entrüstet. „Wo doch jeder weiß, welche Güte, welcher Liebreiz und welche Schönheit von der königlichen Familie ausgeht.“
Thot-mose erschrak und dachte an die Flecken in seinem Gesicht, die Isis kaum entgangen sein dürften. „Der Thronfolger ist ein hässlicher Kerl mit fleckiger Haut, einer großen Nase und einem krummen Rücken.“
„Wie kannst du nur so etwas sagen?!“ Isis war nun endgültig empört. „Gott Amun höchstselbst ist sein Vater. Wie kann er da hässlich sein?“
„Sag das nicht“, sagte Thot-mose voller Ernst. „Schöner als ich ist er auf keinen Fall.“
„Und wenn schon“, erwiderte Isis. „Er wird die göttliche Schönheit eben in sich tragen.“ Sie sah nach der Sonne, die bereits tief im Westen stand. „Oh, ich muss zurück in die Unterkunft. Wir wohnen bei Verwandten“, nahm sie eine mögliche Nachfrage vorweg. „Und mit dem Einbruch der Dunkelheit werden wir im Palast erwartet. Ich muss mich also beeilen, denn man muss mich noch herrichten.“ Schon war sie aufgestanden und dabei zu gehen. „Ich hoffe, wir sehen uns wirklich heute Abend.“
„Ganz bestimmt“, rief Hat-schepsut und winkte ihr nach.
„Ganz bestimmt“, wiederholte Thot-mose.
Es dauerte tatsächlich eine kleine Ewigkeit bis der Wächter Sobek-hotep das Klopfen der königlichen Kinder gehört hatte. „Bin ja schon da, bin ja schon da“, knurrte er, als er die Pforte öffnete. Hat-schepsut versprach, ihm in der Nacht noch einen Leckerbissen aus der Palastküche zukommen zu lassen und begleitete ihren Bruder zu seinen Gemächern, da er von sich aus den Weg kaum zurück gefunden hätte. Seine Dienerin stand händeringend vor der Tür.
„Heute Abend ist großer Empfang bei seiner Majestät mit den Edlen des Reiches“, sagte sie mit bebender Stimme. „Wir müssen einen außerordentlich guten Eindruck hinterlassen. Ich habe das Bad schon vorbereitet.“ Erschrocken