Wien!. Till Angersbrecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Till Angersbrecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738030327
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      Wie ist das zu verstehen, frage ich, um nicht ganz desinteressiert zu erscheinen?

      Er hat uns modern und demokratisch gemacht, indem er die Proleten auf die Bühne holte und die Elite zum Teufel jagte, die bis dahin die Burg besetzte.

      Ach so? Verstehe ich nicht.

      Das kannst Du als Deutscher auch nicht verstehen. Es gibt bei uns zwei Arten von Menschen, man könnte sie geradezu als zwei verschiedene Spezies der Evolution ansehen. Da hast du einerseits das üppig wuchernde Unkraut der Wiener Vorstädte zwischen Favoriten und Brigittenau. Und andererseits hast du die piekfeinen Lilien, die in den Palazzi des Ersten Bezirks gedeihen. Die einen sprechen ein saftiges, ordinäres Deutsch, ein Deutsch wie ausgelatschte Pantoffeln, das nicht selten auch ebenso stinkt. Ich sage Dir, das schmeckt vulgär bis brutal, auch wenn der Kenner dieser Sprache eine gewisse kraftstrotzende Saftigkeit nicht absprechen kann. Hör sie dir einmal an, die Wilden aus Favoriten, wenn sie sich keine Hemmungen auferlegen, dann sträuben sich dir die Haare. Mit Abstand das vulgärste Deutsch in ganz Mitteleuropa wird hier gesprochen. Da brechen wir einen Guinness-Rekord.

      Davon weißt du natürlich nichts. Was gehen dich unsere Vorstädte an? Du bist Feuilletonist. Da hast du es fast nur mit der hochnäsigen Truppe aus den Palazzi zu tun, dem vornehmen Österreich!

      Also erholen wir uns einen Augenblick im Ersten Wiener Bezirk, wo die piekfeinen Lilien gedeihen. So vornehm und so fein! Davon habt ihr in eurem deutschen Kleinbürgerparadies gar keine Ahnung. Nur bei uns in Wien findest du solche Paradiesvögel, solche Eleganz und einen so gehobenen Ton. Leute mit blütenweißer Sprache, die mit einem Timbre reden, das jeden erschauern macht, der es früher einmal im Burgtheater von Oskar Werner oder seinen Nachfolgern hörte.

      Lass es dir von einem Eingeborenen sagen: Erst wenn die Wiener Hochsprache dir Wonneschauer über den Rücken jagt, hast du die Seele der Stadt wirklich begriffen.

      Das glatzköpfige Männchen bedrängt mich, aber ich kann nicht leugnen, dass seine stürmisch auf mich einprasselnden Worte mir nach jeder Begegnung immer noch eine ganze Zeit im Kopf rumoren. Es stimmt ja, dass man dich in dieser Stadt mit dem hässlichsten Deutsch überfällt und dass du deine Seele nach dieser Misshandlung nirgendwo so wie in Wien am schönsten Deutsch wieder aufrichten und gesundbaden kannst.

      Liesl Kinsky zum Beispiel ist ein Geschöpf der vornehmen Welt. Sie macht gar kein Hehl daraus. Wenn du mit ihr sprichst, dann klingt dieses helle, klare Deutsch an dein Ohr. Es hat mich von Anfang an gefesselt. Ihr lichtes Deutsch war der Grund, warum ich ihr nicht widerstehend konnte. Du glaubst einen lichten Raum zu betreten, ganz durchflutet von Helligkeit. Alles in Liesls Umgebung ist Klarheit und Pünktlichkeit. Es herrscht eine Ordnung, die meinem Naturell leider nicht in die Wiege gelegt worden ist; Liesl ist sozusagen der Gegenwurf zu meinem eigenen reichlich chaotischen Charakter. Ob das der Grund ist, warum ich mich nach wie vor nicht von ihr losreißen kann, obwohl wir doch geistig keinerlei Gemeinsamkeiten besitzen und sozusagen auf verschiedenen Planeten beheimatet sind?

      Warum, frage ich Tannenberg, liegen die Extreme in Wien so weit auseinander?

      Eigentlich stelle ich diese Frage nur widerstrebend. Auf diese Weise bestärke ich ihn natürlich darin, mir auch weiterhin aufzulauern.

      Siehst du, auf diese Frage habe ich gewartet. Sie beweist mir, dass du Fortschritte in der Nostrifizierung machst. Wer weiß, vielleicht besteht sogar eine gewisse Hoffnung, dass du einmal zu einem echten Wiener wirst. Meine Antwort hängt mit einem Unterschied zusammen, dem Unterschied unserer kakanischen Natur zum Wesen der Deutschen. Ihr seid seelisch - wie soll ich mich ausdrücken, ohne dir allzu nahe zu treten? – ihr seid etwas einfacher gestrickt. Bei uns sind ‚zwei schlicht, zwei verkehrt’ die Regel. Bei euch fehlt der verkehrte Einschlag. Oder lass es mich so erklären: In dieser Stadt spannt die Seele ihre Flügel viel weiter aus als bei euch. Da entsteht ein gewaltiger Bogen, der von der Hölle ganz unten bis nach oben zum Himmel reicht. Nicht zufällig haben wir einen Hetzer wie Abraham a Sancta Clara hervorgebracht und eine heilige Kaiserin wie Maria Theresia.

      Er senkt seine Stimme, um mir die letzten Sätze beinahe ins Ohr zu flüstern.

      Keine andere Stadt hat so viele göttliche Musiker in ihren Mauern beherbergt wie Wien, und nirgendwo wurden die Juden gleich am Tag des Anschlusses so gehässig gequält wie hier. Dieser Gegensatz zählt bis heute zu den größten Rätseln der Stadt. Es wurde nie aufgelöst.

      Die Zureiterin

      Ich blicke auf die Uhr, deren kleiner Zeiger sich gerade anschickt, ganz bis auf die Zehn vorzukriechen. Ich weiß, Liesl besteht in allen Dingen auf Pünktlichkeit. Sie ist, wie ich schon sagte, ein durch und durch ordentlicher Mensch. Das lernt man im Umgang mit Pferden, hat sie mich gleich zu Anfang unserer Beziehung belehrt. Pferde hätten ein hervorragendes Gedächtnis und dazu noch ein bemerkenswert verlässliches Zeitgefühl. Eine Uhr am Handgelenk brauchen die nicht; die wüssten genau, wann die Zeit für die tägliche Bewegung, die Fütterung, die Nachtruhe kommt. Wehe, du bist eine halbe Stunde zu spät, dann hast du es dir bald mit ihnen verscherzt.

      Merk Dir das, fügte sie hinzu und wollte mir damit bedeuten, dass sie von mir mindestens so viel verlangen darf wie von einem Pferd.

      Um die Wahrheit zu sagen, ist übertriebene Ordentlichkeit für mich gleichbedeutend mit Langeweile, aber natürlich birgt sie den Vorteil, Unsicherheit und Unentschiedenheit auszuräumen. Jedenfalls weiß ich von vornherein, wie unser Treffen ablaufen wird, sobald ich im dritten Stock auf den Klingelknopf drücke. Die Tür öffnet sie mir im Schlafrock, den sie nur lässig oder auch gar nicht über ihre nackten Brüste gezogen hat. Wer soll denn schon sonst um zehn Uhr abends bei ihr zu Besuch erscheinen?

      In der Regel bietet sie mir vorher nicht einmal eine Erfrischung an. Ich verstehe das. Sie weiß ja, dass ich zuvor in irgendeinem Gasthaus die Zeitung gelesen und vermutlich schon ein Getränk zu mir genommen habe.

      Was mich betrifft, so murmele ich nur einige Worte err das Wetter mele ich nur einige Worte r die Zeitung gelesen und vermutlich einen Kaffee getrunken habe. n. ald ich oben auf über das Wetter oder sondere irgendwelche anderen Belanglosigkeiten ab, während ich mich umgehend meiner Kleidung entledige. Unser Vorspiel ist genauso dürftig, es ist von schlechthin summarischer Art und eigentlich überhaupt inexistent. Das habe ich Liesl anfangs doch einigermaßen verübelt. Immerhin sollte sie wissen, murmelte ich anfangs meinen Unmut in mich hinein, dass selbst in der Tierwelt die vorbereitende Brunst ihren festen Platz behauptet. Oder hat sie noch nie gesehen, wie Kraniche tanzen, Pfauen ihren farbfunkelnden Schweif in die Höhe richten und Hirsche ein wildes Konzert dumpfen Röhrens anstimmen, bevor sie zur Sache kommen? Als Mann oder Männchen, sei es in der Tier- oder Menschenwelt, braucht man doch etwas Zeit, um in Hitze zu kommen.

      Nun, diese Zeit gönnt sie mir nicht. Vermutlich hält sie sich auch in dieser Hinsicht ganz an die Gepflogenheiten der Pferde.

      Immerhin hilft sie mit kunstvollen Griffen nach, falls ich nicht gleich in Bereitschaft bin, was nach einem mit Terminen und Arbeit reichlich ausgelasteten Tag trotz jugendlicher Frische doch einmal vorkommen kann. Erst wenn dem Vollzug nichts mehr im Wege steht, ist sie mit mir zufrieden, tätschelt meinen Hals und lächelt mir aufmunternd zu. In diesem Moment pflege ich dann regelmäßig zu vergessen und sogar ganz zu verzeihen, welche Rolle ich bei Liesl eigentlich spiele - nämlich die eines artig dressierten Hengstes.

      So jedenfalls spielt es sich in unfehlbarem Regelmaß bei jeder unserer Begegnungen ab. Sie setzt ihr gnädigstes Lächeln auf, und ich vergesse augenblicklich meine Lage als Liebesdiener einer adligen Zureiterin.

      Doch in letzter Zeit begehre ich auf, weil meine Dressur denn doch ein entwürdigendes Ausmaß erreicht! Auch die weitere Regie lässt nämlich keinerlei Abweichungen zu. Alles muss seine strikte Ordnung haben. Ihr Lächeln und der sanfte Griff an den Hals lenken mich in die richtige Stellung.

      Nun gut, wie immer lege ich mich auf den Rücken, während sie sich in den Sattel schwingt, d.h. ich liege unter ihr, und sie ist die reitende, treibende Amazone. Und wie sie diesen Ritt dann genießt! Das immerhin muss ich eingestehen, weil es natürlich die eigene Lust ins Crescendo