Eine schöne Leich, murmelte Dombrowsky immer wieder und bewies damit auf seine besondere Art, wie groß die Ehrfurcht des Wieners vor dem Tode in seiner erhabenen Schönheit ist. Natürlich ließ Dombrowsky diesmal keinen einzigen Schritt der üblichen Prozedur außer Acht. Die einzelnen Organe wurden fein säuberlich abgetrennt, zerlegt, abgelichtet und physiologisch wie nach dem Augenschein der sorgfältigsten Begutachtung unterworfen, Gewebeproben entnommen und an die einschlägigen Institute zur genaueren Untersuchung verschickt.
Das Ergebnis war dann freilich auf schmerzliche Art enttäuschend – zumindest für einen so gewissenhaften Gutachter wie Dombrowsky. Man muss sogar sagen, es war sehr enttäuschend, denn schließlich ging es dabei um seine ärztliche Reputation. Ein Mensch stirbt ja nicht einfach so, von einem Moment auf den anderen und noch dazu mitten beim Erzählen eines deftigen Herrenwitzes. Eine Wirkung muss ihre Ursache haben, ihren nachweisbaren Grund - das war und ist ein Grundsatz der Medizin, an dem nur Schwachsinnige und Esoteriker zu rütteln oder zu zweifeln wagen. Doch Dombrowsky, einer der angesehensten Spürhunde seiner Zunft, dem auch der kleinste Webfehler eines menschlichen Körpers nicht zu entgehen vermochte, entdeckte zwar, dass die Leberwerte des Mannes aufgrund einer zehn Jahre zuvor ausgeheilten Hepatitis – unerfreuliche Nachwirkung eines vormaligen Indienbesuchs - den Normwert nicht völlig erreichten, doch in jeder sonstigen Hinsicht war der Mann kerngesund, ja strotzte geradezu vor Gesundheit. Dombrowsky musste sich eingestehen, dass es keinen Grund für sein Ableben gab, oder dass - genauer gesagt, denn einen Grund musste es ja geben, da nichts auf dieser Welt grundlos geschieht - dass er, Dombrowsky, diesen Grund nicht zu finden vermochte. Das wurmte ihn schrecklich, bereitete ihm geradezu geistige Pein. Andererseits war Dombrowsky ein von Grund auf ehrlicher Mann, ehrlich genug jedenfalls, genau das in seinem Befund zu vermerken.
Wörtlich bezeichnete er das Ableben von Boris Kowatsch als unerklärlich. Das hätte er besser nicht tun sollen!
Rosen, Rosen, Rosen
Kurze Zeit nachdem Dombrowsky sich über eine ‚schöne Leich’ gebeugt hatte, wobei er sie kunstfertig in ihre nicht weniger schönen Einzelteile zerlegte, streiche ich durch den Volksgarten neben dem Heldenplatz, der seinen Besuchern zu dieser Zeit ein üppig blühendes Prachtgewand zeigt. Mein Blick schweift über die lächelnden kleinen Gesichter Tausender karmesin-, ziegel-, blut- und orangeroter, gelber und selbst einiger weißer Rosen, er streicht achtlos über die Mütter mit ihren Kinderwagen, während ich mich zwischendurch über all die kamerabewehrten Touristen wundere, die links und rechts Bilder schießen, ganz als wären in ihrer Heimat Rosen unbekannt oder gehörten einer ausgestorbenen Spezies an. Vermutlich gehorchen sie nur einer inneren Stimme, die ihnen eindringlich den Befehl zuflüstert.
Hier bist du Tourist, hier musst du’s sein!
Der Tourist als solcher hat eben nichts anderes zu tun, als links und rechts alle möglichen Bilder zu schießen. Ich hingegen fühle mich merkwürdig abgelenkt. Zwar könnte ich mir die kleinen weißen Auskunftsschilder anschauen, welche die Rosen aus ihrer namenlosen Existenz in das Bewusstsein bildungsbeflissener Betrachter katapultieren. Die geben auf Deutsch und Latein brav Auskunft über die genaue Bezeichnung einer jeden von ihnen. Doch zu dieser Erweiterung meiner Bildung geht mir die innere Ruhe ab.
Ich bin nämlich hier, um zu warten.
Ich könnte mich auch fragen, ob der Mann, der mir gerade entgegenkommt, ein Japaner oder ein Chinese sei. In jüngster Zeit sind die einen im Rückzug, während die anderen gerade im Begriff sind, das Alte Europa in Massen heimzusuchen, weil sie darin eine Art Freilichtmuseum erblicken.
Aber ich stelle mir diese Frage nicht, ich warte.
Da vorn, es ist nicht zu fassen, sehe ich eine in Pechschwarz von unten bis oben umhüllte Frau, die in ihrer Rechten ein Eis balanciert, das irgendwie durch den schwarzen Stoffpanzer zu ihrem Mund kommen will. Also hebt sie den Lappen über dem Eingang mit einem Handschlenker blitzschnell in die Höhe, um kurz an der Leckerspeise zu züngeln. Ich kann nicht umhin, dieses rote Züngeln aus schwarzer Mumifizierung im höchsten Grade aufreizend zu finden, ja geradezu obszön.
Wäre es nicht weniger aufreizend, wenn sie ihr Eis in vollständiger Nacktheit verzehren würde? Dieser Gedanke verdient es, vertieft zu werden.
Aber ich vertiefe ihn nicht, denn ich warte.
Zwanzig Minuten spaziere ich nun schon im Volksgarten auf und ab. Meine Gedanken sind im Begriff, eine unerfreuliche Wendung zu nehmen. Gewiss doch, ich weiß ja, dass Frauen seelisch darauf programmiert sind, die Zögernden, Abwartenden, Zurückhaltenden zu sein. Eine Frau hat das Recht, ihren Liebhaber auf die Folter zu spannen. Das trägt unfehlbar dazu bei, den Testoteronspiegel des Mannes zu erhöhen und sein inneres Feuer umso stärker zum Lodern zu bringen.
Aber bitte, Elli, du solltest dennoch nicht übertreiben! Bedenke doch, ich bin ein vielbeschäftigter Journalist. Ich brauche Dir nicht zu sagen, dass mein Name unter Kennern inzwischen einen gewissen Ruf genießt. Auch wenn du eine bekannte Schauspielerin bist, bin ich doch kein Irgendwer, kein Schüler, der dem Rendezvous mit seiner ersten Liebe entgegenzittert!
Diese dummen und kleinlichen Überlegungen schießen mir durch den Kopf – ich habe größte Mühe, sie jetzt wahrheitsgemäß zu verzeichnen. Wahr ist aber auch, dass sie mich gleich danach über die Maßen geärgert haben. Aber so ist es eben: Ein Wartender verliert alle Kontrolle über den eigenen Kopf. Die Unruhe fährt ihm wie eine Lähmung in die Glieder, alles was sich im Mülleimer seiner Seele über die Jahre an gedanklichem Unrat so angesammelt und abgesetzt hat, spritzt, wenn Du einen solchen Menschen auf das Folterrad des Wartens spannst, unkontrolliert aus dem Bauch in die Höhe und breitet sich wie ein schillernder Ölteppich in seinem Bewusstsein aus.
Bitte sehr, möchte ich deshalb sagen: Das allein ist doch schon ein ausreichender Grund, warum eine Frau ihren Liebhaber niemals so quälen sollte!
Zum Beispiel gehen mir in diesem Augenblick die Helden durch den Kopf und auf die Nerven; ich meine die Helden des benachbarten Platzes gleichen Namens. Unsere demokratische Zeit liebt keine Helden, poppen die Gedanken aufgescheucht in mir auf. Die erinnern uns auf peinliche Art immer nur daran, dass wir selbst keine sind. Ihre bloße Existenz ist eine Demütigung.
Ich warte und brechen die Gedanken in meinem Kopf so aus wie eine Schar Schuljungen, wenn es zur Pause läutet.
Helden? Da werden doch nur die armseligen Dummen nachträglich verklärt, die sich für das Vaterland abschlachten ließen, genauer gesagt für den Kaiser und seine Spielzeuggeneräle, die, gleichmütig lächelnd über das Schachbrett der Macht gebeugt, die kleinen Leute an den Fronten verheizten. Welcher Triumph wurde da denn eigentlich gefeiert? Na ja, im Zweifelsfall war Prinz Eugen am Werk, der in Wien für die meisten Heldentaten zuständig ist. Nein, das wird wohl doch nicht stimmen. Wenn ich mich recht entsinne, geht es um den Sieg Erzherzog Karls über Napoleon.
Ich warte Elli, ich warte. In aller Freundschaft möchte ich dir sagen: Eine halbe Stunde Verspätung, das ist Gift für die Gefühle. Ich liebe dich, aber wenn du mich als Spielzeug missbrauchst, dann ...
Heldenplatz! Wenn man die vermeintlichen Helden doch wenigstens ins Leben zurückrufen könnte, damit wir wissen, wie es zu ihrer Zeit wirklich war.
Aber Schluss damit! Die Vergangenheit geht mich nichts an. Nur die Gegenwart zählt. Ich schreibe über Leute, die ich sehen und die ich berühren kann. Geschichte interessiert doch heute niemanden mehr.
Elli, ich begreife ja, dass sich eine Schauspielerin nicht um die pedantische Botschaft von einem Ziffernblatt kümmern muss. Die Kunst steht über der Zeit. Das wissen wir. Aber wenn du schon weißt, dass der Regisseur absoluter Herr über deine Terminplanung ist, warum bestellst du mich dann in den Rosengarten? Soll ich denn gleich zu Anfang die Grundlektion lernen: Liebe ist Schönheit plus Dornen?
Warten, warten und warten - das ist wie ein Rühren im Gedankenschlamm des Gehirns. Alles wird aufgewirbelt, selbst der übelste Argwohn und der