Da spricht die verletzte Eitelkeit, sagt mir mein anderes, mein besseres Ich. Das Dümmste, was dir jetzt einfallen kann, ist Vergangenheitsforschung, ob du vielleicht in diesem oder in einem anderen Moment dieses oder jenes unbeholfene Wort von dir gabst.
Reiß dich zusammen! Immerhin hast du ihren Auftritt in Horvaths Wiener Geschichten voller Enthusiasmus geschildert. Natürlich bist du dabei nicht ganz ehrlich gewesen, gib das nur zu. Dafür aber hast du dich ja auch längst gehörig gegeißelt. Du warst hingerissen von ihrer Figur, von ihren Bewegungen, von ihrer Stimme – jedenfalls wenn sie zwischendurch einmal leise sprach. Aber das hat sie leider eher selten getan.
Schade, dass unsere heutigen Schauspieler nur noch in Ausnahmefällen leise sprechen, etwa dann, wenn sie heiser sind oder physisch leidend. Im Normalfall wird auf sämtlichen deutschen Bühnen gebelfert, gekrächzt, gebrüllt und gekreischt - was die Lunge eines Schauspielers nur so hergibt. Die Leidenschaft wird bei uns durchwegs in Dezibel gemessen. Gefühle müssen eimerweise ausgegossen werden, sonst nimmt man sie nicht mehr wahr.
Das hast du in deiner Kritik unterschlagen, und deswegen war deinem Lob eben auch ein Quäntchen Unehrlichkeit beigemischt. Aber, bitte, kein Kritiker hat Elli Koschinsky so auf den Podest der großen Kunst gehoben. Deinen Artikel kann sie sich zu Hause einrahmen und an die Wand anheften, wie man eine Ehrenurkunde aufbewahrt. Ist es denn nichts, in einer führenden deutschen Tageszeitung so in den Himmel gelobt zu werden?
Mein Selbstgespräch wird zur Selbstquälerei, weil jetzt schon dreißig Minuten vergangen sind, dreißig Minuten im Rosengarten mit Blick auf den Heldenplatz nebenan.
Sei still, Carsten, rede ich auf mich ein. Ich weiß schon, was du sagen willst, hast es mir ja schon zum x-ten Mal unter die Nase gerieben. Die Liebe einer Frau lässt sich nicht kaufen. Wenn ihr deine Person missfällt, kannst du noch so gute Artikel schreiben, sie wird dich allenfalls wie ein Schoßhündchen an der Schnur mit sich führen.
Auch das noch!
Servus Carsten!
Nein, das ist jetzt nicht mehr meine eigene innere Stimme, das ist auch nicht die Stimme Ellis, sondern das ist die Stimme von Thorbrecht Tannenberg.
Das auch noch! Ich schrecke zusammen. Um ehrlich zu sein, würde ich den Mann am liebsten löschen, ich meine so löschen, wie ich gewohnt bin, am Computer eine unpassende oder überflüssige Textstelle nachträglich zu entfernen. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, bin ich tatsächlich unschlüssig, ob ich Thorbrecht Tannenberg an dieser Stelle überhaupt nennen soll. Hätte ich einen frei erdichteten Roman zu verfassen, nun, dann würde ich dem Mann hier gewiss keinen Platz einräumen, jedenfalls nicht an dieser Stelle im Volksgarten, während ich auf Elli Koschinsky warte. Ich müsste ja langatmig erklären, dass er ein Physiker und Freund von Albert Kinsky, dem Bruder von Lisa, ist. Und natürlich müsste ich mich schon hier dafür rechtfertigen, dass ich zu Lisa – ich will es einmal ganz allgemein ausdrücken - ein besonderes Verhältnis besitze.
Also, in einem frei erfundenen Roman würde Tannenberg, die ‚kleine Tanne’, wie ihn seine Freunde nennen, an dieser Stelle ganz einfach stören, da ich ja auch noch ein Wort über seine physische Erscheinung, nämlich seine auffällige Kleinwüchsigkeit, den unübersehbaren Ansatz zu einem Buckel und über seinen Charakter hinzufügen müsste, damit der Leser überhaupt weiß, wen er vor sich hat.
Ich schreibe allerdings keinen Roman, sondern eine Chronik der Stadt Wien in einem ihrer historisch bedeutsamsten Momente, nämlich während der „dritten Belagerung“. Deshalb bin ich den Tatsachen und der Wahrheit verpflichtet und kann den Mann nicht einfach wegretuschieren. Ich muss ihn in meiner Nähe dulden, ich muss sogar im Einzelnen wiedergeben, was er mir sagt, obwohl es mich wirklich die größte Mühe kostet. Natürlich weiß er nicht, dass ich mich keinesfalls zufällig im Rosengarten befinde.
Carsten, hast Du das Neueste über den Fall Kowatsch gehört, den ehemaligen Kugelwerfer, angeblich mitten im Witzereißen verstorben? Ein Hexenzirkus, sage ich Dir, eine unglaubliche Geschichte. So etwas Tolles kann nur in Wien passieren. Du kennst ja unsere Götter in Weiß, nicht wahr?
Na, ich weiß, du bist eine treudeutsche Seele, unschuldig und naiv. Da wirst Du Dir gar nicht vorstellen können, wie schnell sich diese Götter in die ärgsten Teufel verwandeln. Nein, du hast wirklich noch keine Ahnung von Wien, du kennst nur die Schokoladenseite, Mozart etc. Aber Intrigen und süffisantes Übelreden haben sich bei uns zu einer unglaublichen Kunst, ich würde sogar sagen, zu einer Art von Kulturblüte entwickelt. Wien ist ein einziges Vipernnest, wo jeder nur darauf lauert, gegen den anderen sein Gift zu verspritzen.
Also, die steile Karriere des Dr. Dombrowsky und sein gewaltiger Erfolg waren seinen weniger begabten Kommilitonen und Konkurrenten schon längst ein Dorn im Auge. Ein geringfügiger Anlass genügte, um diesen Neid zu einem lodernden Brand zu entfachen.
Das hat sich so abgespielt. Die kleine Tanne tritt so nahe an mich heran, dass ich dem Mann auf die Glatze und den sich unterhalb der Schultern leicht vorwölbenden Buckel schaue, er ist ja einen ganzen Kopf kleiner als ich. Während er mir auf diese Art die letzten Nachrichten kredenzt, wundere ich mich über den seltsamen Gegensatz zwischen seinem redseligen Mund und den trübseligen Augen. Beide haben offenbar versäumt, sich miteinander abzustimmen.
Also, kaum hatte einer der Kollegen Dombrowskys von der ehrlichen aber herausfordernden Feststellung Kenntnis erhalten, dass der Tod von Boris Kowatsch in dessen Gutachten als unerklärlich bezeichnet wird, als dieser Kollege - wie sagt man? – ein Erweckungserlebnis hatte. So eine Äußerung, na servus, das war doch ein gefundenes Fressen! Das ließ sich doch prächtig gegen Dombrowsky verwenden! Daraus ließ sich doch ein Strick drehen, an dem man den Mann vor der gesammelten Ärzteschaft aufhängen kann!
Der Kollege machte sich umgehend daran, den führenden medizinischen Kapazitäten der Stadt den unglaublichen Fehltritt zur Kenntnis zu bringen.
Und es kam, wie es kommen musste. In der Professorenschaft röhrte es nur so vor wahrhaft homerischem Gelächter. Hat man jemals gehört, dass ein kerngesunder Mann auf unerklärliche Art von der Bühne tritt? Auf Anhieb war allen klar: Mit diesem einzigen Wort hatte Dombrowsky seine Karriere, seinen Ruf, seine wissenschaftliche Reputation, seine Zukunft verspielt. Das Lachen fraß sich im Nu durch die ganze höhere Medizin und langte selbst bei den Wiener Allgemeinärzten an. Natürlich wurde der Befund sogleich als völlig unwissenschaftlich, lächerlich laienhaft und unprofessionell gebrandmarkt.
Umgehend wendete man sich an Professor Ehrenreich. Dessen Spezialgebiet ist das unüberschaubare Feld der verschlungenen Wechselwirkungen zwischen der Physis und der Psyche des Menschen. Du kannst Dir vorstellen, wie ungehemmt sich da schwafeln lässt.
Ehrenreich wurde also gebeten, die Fehldiagnose Dombrowskys zu korrigieren. Das gelang dieser Koryphäe nach einer knappen und, wie es scheint, ganz mühelosen Überprüfung. Auch wenn er an den Ergebnissen Dombrowskys nichts zu ändern fand, so rückte er sie doch in ein völlig anderes Licht. Kowatsch, stellte er fest, sei zwar physisch gesund gewesen, aber offenkundig habe er unter einer übergroßen psychischen Spannung gelitten, einer Spannung so gewaltig, dass sie sogar auf seine Begleiterin übersprang. Die hätte ja wortwörtlich von 380 000 Volt gesprochen. Zwar habe der Sportler versucht, den inneren Aufruhr mit einem Männerwitz zu entkrampfen – wir alle kennen ja solche typischen Übersprungreaktionen - aber der innere Aufruhr habe ihn überwältigt. Das sei die eigentliche Ursache seines plötzlichen Todes gewesen.
Der große Ehrenreich ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, seine Expertise mit einem Seitenhieb auf den glücklosen Dombrowsky zu schließen.
Leider, so hielt er in seinem Gutachten fest, sei selbst unter sogenannten Experten ein fundiertes Wissen um die psychophysischen Vorgänge beklagenswert selten. Das müsse sich ändern. Ein in der ganzheitlichen Medizin