»Gabriel ist süß, stimmt schon. Aber du weißt, was ich von ihm halte«, antwortete ich ehrlich.
»Du stellst dich schon ein bisschen an, das sind schließlich alles nur Gerüchte. Außerdem kann es doch nicht schaden, ein bisschen geheimnisvoll zu sein. Ich find das sehr sexy.«
Geheimnisvoll, das war das richtige Wort, um Gabriel zu beschreiben. Unter den Schülern der Oberstufe war er das Gesprächsthema Nummer eins. Bei den Jungs seines Jahrgangs war er zwar beliebt, und die meisten Mädchen himmelten ihn sowieso an. Dennoch kursierten um ihn mindestens so viele Gerüchte wie um Michael Jackson. Gabriel und seiner Familie wurde zum Beispiel nachgesagt, dass sie Satanisten wären. Andere behaupteten wiederum, dass die Familie nur einer Sekte angehören würde. Okay, das waren solche Gerüchte der Sorte der Freund eines Freundes eines Freundes hat erzählt, dass er Gabriel und seinen Bruder nachts auf dem Friedhof gesehen hat. Wer konnte also schon wissen, was da wirklich dran war? Und dennoch. Es waren einfach zu viele Gerüchte dieser Art, und meiner Meinung nach steckte in jedem ein Körnchen Wahrheit.
Gabriel hüllte sich in tiefes Schweigen, wenn es um ihn und seine Familie ging. Man hatte im Gegenteil eher das Gefühl, er würde die Gerüchte auch noch schüren. Die ganze Schule wusste mittlerweile Bescheid, dass er mal ein Referat über Satanismus gehalten hatte, und zu Karneval will ihn einer im Neo-Aufzug aus Matrix gesehen haben. »Na ihr zwei Hübschen, was gibt’s Neues?«, fragte mein Bruder Mark, der auf uns zukam. Er ließ sich neben mir auf den Tisch fallen, beugte sich zu mir und nahm einen großen Bissen von meinem Käsebrötchen. »Na was wohl?«, meinte ich und verdrehte die Augen. Mark stöhnte. »Och Hannah, das Thema hatten wir doch schon.« »Hör mal, Mark, ich find das ja echt nett, dass du dir Sorgen um mich machst, aber das musst du nicht. Du bist nicht mein großer Bruder, sondern Emmalyns.« Ich musste grinsen, ohne es zu wollen. Dass Mark nicht Hannahs Bruder war, hielt ihn nicht davon ab, sich um sie zu kümmern. Immerhin war sie meine beste Freundin, seit wir uns im Kindergarten kennengelernt hatten. Sie gehörte praktisch zur Familie, und Mark nahm die Familie sehr ernst. Er war neunzehn und damit nur zwei Jahre älter als ich. Dass er immer noch aufs Gymnasium ging, lag daran, dass er ein Jahr in den USA gewesen war und deshalb eine Klasse wiederholen musste. Er hatte so etwas wie die Vaterrolle für mich übernommen, weil mein Vater uns verlassen hatte, als ich noch ganz klein gewesen war. Seitdem hatte ich meinen Vater kaum mehr gesehen. Nun seufzte Mark. »Ich will doch nur vermeiden, dass er dir wehtut, Hannah. Denn das wird er, wenn du dich auf ihn einlässt.« Hannah bekam immer strahlende Augen, wenn sie von Gabriel sprach, doch nun sah sie wehmütig in seine Richtung. »Er wird mir nicht wehtun, denn wir werden nie zusammenkommen. Du brauchst dir also wirklich keine Sorgen zu machen.« Mark nickte. »Ich lass euch besser mal allein.« Er nahm noch einen Bissen von meinem Brötchen, dann verschwand er. Ich legte währenddessen einen Arm um Hannahs Schulter und versuchte, sie aufzumuntern. »Hey Süße, das sind ja ganz neue Töne, die du da anschlägst. Ich dachte, du magst diesen Typen, auch wenn ich das immer noch nicht so ganz nachvollziehen kann.« Ich wollte Hannah zum Lachen bringen, doch sie warf mir nur einen traurigen Blick zu. »Ich mag ihn ja auch. Trotzdem werden wir nie zusammenkommen. Er interessiert sich doch gar nicht für mich. Er weiß nicht mal, dass ich existiere.« Normalerweise hätte ich alles getan, damit es so blieb. Gabriel und Hannah, das war eine grausige Vorstellung. Aber sie war meine beste Freundin, und ich wollte, dass sie glücklich war. Deshalb sagte ich: »Dann sorgen wir halt dafür, dass er's erfährt. Du hast es doch noch nicht mal versucht, und es ist auch gar nicht deine Art, schon vorher aufzugeben. Also fang jetzt nicht damit an.« Einen Moment überlegte sie, dann lächelte sie. Sie drückte mir einen klebrigen Lipgloss-Kuss auf die Wange und sprang vom Tisch. »Du hast absolut recht, und deshalb werd ich jetzt auch deinen Bruder um Hilfe bitten.« Bevor ich nachfragen konnte, was sie vorhatte, war sie auch schon verschwunden. Ich wischte mir die Lipgloss-Spuren von der Wange und steckte mir die kläglichen Überreste meines Brötchens in den Mund. Dann stützte ich mich hinter dem Rücken auf meinen Händen ab, um die Sonne zu genießen. Hoffentlich würde es am Wochenende auch so schön sein. Es war so warm, dass ich meinen dicken Wintermantel ausgezogen und neben mich auf den Tisch gelegt hatte. Wir hatten erst Mitte März, aber der Frühling lag bereits in der Luft. Die Sonne fühlte sich warm und angenehm auf der blassen Winterhaut an, und der Schulrasen war mit Schneeglöckchen und Krokussen übersät. Bald würden sicher die ersten Osterglocken sprießen. Wirklich genießen konnte ich das schöne Wetter in diesem Moment aber nicht, denn die Schulglocke läutete. Während ich nach meinem Mantel und meiner Tasche griff, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, dass Gabriel mir einen Blick zuwarf. Ich konnte mich aber auch getäuscht haben, denn als ich mich in seine Richtung umdrehte, waren er und seine Freunde bereits verschwunden.
Seufzend ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen. Der Platz neben mir war noch leer. Wo Hannah nur blieb? Wir hatten eine Doppelstunde Religion vor uns, und ich hätte gerne vorher noch von ihr gewusst, was sie eigentlich von meinem Bruder wollte. Es klingelte zum zweiten Mal, damit war die Pause offiziell zu Ende. Hannah huschte in den Raum und sah erleichtert aus, dass unser Religionslehrer Herr Müller noch nicht da war. Ebenso seufzend wie ich vorher ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen. Allerdings klang ihr Seufzen mehr nach »Ach, ist das Leben nicht schön?« als nach »Wie soll ich nur zwei Stunden Reli überstehen?«
Fragend sah ich sie an. »Und?«
»Ich hab 'ne super Idee, wie ich an Gabriel rankomm. Und du musst mir dabei helfen.«
»Ich? Aber ich hab doch keine Ahnung von dem Kerl.«
»Es geht um unser Referat. Wärst du sehr böse, wenn ich unser Thema über'n Haufen werfe?«
Wieder sah ich sie fragend an. Wir hatten uns bis heute ein Thema für unser Religionsreferat überlegen müssen, und Hannah und ich hatten uns für Buddhismus entschieden. Zugegeben, ich hing nicht sonderlich an dem Thema, aber ich verstand nicht, warum sie es jetzt wechseln wollte.
In diesem Moment betrat Herr Müller den Raum, wie immer zwei Minuten zu spät und vollbepackt mit Unterrichtsmaterialien.
»Also, machst du mit?«, zischte Hannah.
Ich hatte kein gutes Gefühl, schließlich wusste ich nicht, auf was ich mich da einlassen würde. Trotzdem zischte ich zurück: »Okay, meinetwegen.«
Hannah strahlte übers ganze Gesicht. Was tat man nicht alles, damit die beste Freundin glücklich war?
»Du hast sie wohl nicht mehr alle. Ich soll ein Referat über Satanismus halten?« Ich war wohl ein wenig zu laut, denn einige Mitschüler drehten sich zu uns um. Doch das war mir gerade ziemlich egal.
Hannah musste irre sein. Kaum hatte Herr Müller den Raum betreten und seine Sachen auf dem Tisch ausgebreitet, war er gleich zu den Referatsthemen übergegangen. Hannah hatte sich als Erste gemeldet und stolz verkündet, dass sie und ich das Thema Satanismus behandeln würden. Ich hatte ihr einen schockierten Blick zugeworfen, zwecklos. Herr Müller schrieb unser Thema auf, gab uns zwei Wochen Zeit und rief dann Jessica auf. Und ich hatte ganze fünfundvierzig Minuten warten müssen, bevor ich Hannah endlich zur Rede stellen konnte.
Nun legte sie einen Finger auf die Lippen und flüsterte: »Ich erklär dir ja alles, aber bitte schrei nicht so. Muss ja nicht gleich die ganze Klasse mitbekommen.«
Ich atmete ein paar Mal tief durch. »Okay, ich bin ganz ruhig. Also?«
Hannah schob sich eine dunkle Strähne hinters Ohr, bevor sie begann. »Also das Ganze war so: Mir ist eingefallen, dass Gabriel ja mal ein Referat über Satanismus gehalten hat. Ich dachte, es wär ganz nett, wenn wir dasselbe Thema nehmen, um an ihn ranzukommen. Wir sind in der Mittagspause mit deinem Bruder verabredet, er stellt uns Gabriel vor. Vielleicht leiht er uns ja seine Materialien.«
»Und was wenn nicht?«
»Keine Sorge, ich werd ihn schon überzeugen.«