„Was ist los mit euch?“, fragte Kerlon munter. „Ihr seid so in Gedanken, dass keiner von euch unseren Anflug bemerkt zu haben scheint.“
Ob er über ihren misslungenen Scherz enttäuscht war, ließ er sich nicht anmerken.
„Und wo ist Erest? Ihr habt ihn doch nicht -? Ihr habt ihn doch?“
„Schlimme Dinge sind geschehen“, sagte Meneas. „Erest ist tot.“
Die beiden Drachen senkten betrübt ihre Köpfe.
„Das tut uns leid“, sagte Ithlor mit ungewöhnlich leiser Stimme. „Was ist passiert?“
Es war um Mittag und sie hatten sowieso vor, eine Rast einzulegen. Gemeinsam zogen sie sich in den Schatten einiger Bäume zurück. Nur Ithlor und Kerlon passten nicht mehr darunter und blieben in der Sonne liegen. Für sie war es eine wohltuende Wärme. Aus einiger Entfernung sahen die beiden aus wie missratene Brathühner (wegen der schwarzen Farbe ihrer Haut), die auf ihren Nestern ihre Eier ausbrüteten. Geduldig warteten sie, bis die Menschen anfingen, zu erzählen.
Reglos hörten sie zu, als Meneas begann, ihr Abenteuer zu schildern. Die Geschichte mit dem Bauern Merower war ja noch ganz lustig, obwohl einigen bald nach der Abfahrt der Rücken wehtat. Valea und Solvyn hatten sich tatsächlich die besten Plätze ergattert, und der Bauer sorgte für kurzweilige Unterhaltung und glaubte bis zuletzt, dass sie Bergsteiger waren.
Während dieser Zeit hatten die beiden Drachen für eine Weile die Gegend verlassen und waren zur Insel Kaphreigh geflogen. Aber das berichteten sie erst später.
Die Ereignisse in dem Gebirgsstollen waren schon nicht mehr so lustig. Zwar hatten die Gespenster der ax´lánischen Wissenschaftler ihnen nichts getan, aber der Schrecken, den ihr Auftauchen verbreitete, noch dazu in dieser finsteren Umgebung, war schauderhaft genug gewesen. Die Spinne hätte ihnen vielleicht gefährlich werden können. Immerhin hatte sich Dungal, der Trochäe, als Verbündeter herausgestellt.
Doch das alles war nichts gegen das, was sie in dem ax´lánischen Stützpunkt erwartete. Obwohl es ihnen niemand ansah, waren die Drachen erstaunt, erschrocken und erschüttert über das, was sie hörten. So vielen Dingen sie auf Elveran auch auf den Grund gegangen waren, sie waren noch nie in einem Stützpunkt dieses fremdartigen Volkes gewesen und hatten keine Ahnung davon, wie es darin aussah. Aus guten Gründen hatten sie sich stets von den Ax´lán ferngehalten. Was sie jetzt hörten, sprengte jedoch selbst ihre Vorstellungskraft. Auch ihre erste Begegnung mit einem Stützpunkt des Ax´lán-Volkes war für zwei ihrer Artgenossen tödlich ausgegangen, wenn der Umstand der Existenz einer solchen Anlage in den Drachenbergen auch nur mittelbar mit ihrem Tod in Verbindung stand.
Schließlich kam das Ende mit Schrecken, aber auch mit einer unerwarteten Hilfe. Immerhin fanden sie das blaue Fragment, aber es war teuer erkauft.
„Jetzt versteht ihr, warum wir so tief in Gedanken versunken waren“, schloss Meneas seinen Bericht. „Dieses Versteck ausfindig zu machen, hat uns viel Kraft gekostet, in jeder Hinsicht.“
„Fürwahr phantastisch und unglaublich“, sagte Ithlor bedrückt. „Und bedauerlich. Da muss die Freude über das Gelingen weit hinter der Trauer um den Verlust zurückbleiben. Wollt ihr aufhören?“
„Nein, wie kommst du darauf?“, erwiderte Meneas entschieden. „Dann wären Erest und Idomanê umsonst gestorben. Nein, wir werden natürlich weitermachen. Jetzt erst recht. Erest jedenfalls hätte nicht anders entschieden. Ich glaube, jeder von uns würde sich irgendwann Vorwürfe machen, wenn er jetzt heimritt. Wir kannten die Gefahren, oder besser, wir wussten, dass unsere Reise mit außergewöhnlichen Gefahren verbunden sein würde. Es ist nur eine allzu menschliche Eigenschaft, so etwas zu verdrängen, trotz aller Erfahrungen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass wir schon weit gekommen sind. Nein, es gibt kein Zurück mehr.“
„Dein Entschluss erleichtert uns“, meinte Kerlon. „Wir werden euch helfen, so gut es geht.“
„Das wissen wir. Aber ihr hättet uns in der Enge des Berges kaum helfen können.“
Meneas´ Entschlossenheit wurde auch von den anderen geteilt, obwohl es ihnen zu dieser Zeit nicht anzusehen war. Sie glichen eher einem geschlagenen Haufen als wildentschlossenen Schatzsuchern. Aber jeder von ihnen würde es als eine Art von Verrat an Erest, und auch an Idomanê, betrachten, wenn sie sich von ihrem Auftrag abwendeten. Tatsächlich fühlten sie sich inzwischen stärker an ihre Ehre gebunden, als an das Versprechen, das sie den Sinaranern gegeben hatten.
„Wie habt ihr die letzten Tage verbracht?“, fragte Tjerulf die Drachen.
„Wir waren nicht untätig“, meinte Ithlor. „Der Nebel hier war so dicht, dass es für uns nicht viel zu beobachten gab. Also beschlossen wir, uns euer nächstes Ziel anzusehen, die Insel Kaphreigh, falls ihr eure Pläne nicht geändert habt.“
Tjerulf schüttelte den Kopf.
„Gut, glauben wir jedenfalls. Das Versteck des Fragmentes haben wir nicht gefunden. Das hätte uns auch überrascht. Aber wir sind sicher, dass sich dort keine Einrichtung der Ax´lán befindet, zumindest keine, in dem noch irgendwelche Vorgänge stattfinden, denn wir haben keinerlei Ausstrahlung festgestellt. Und soweit wir gesehen haben, und wir haben die Insel einige Male überflogen, ist sie unbewohnt. Wir vermuten, ihr werdet ein Boot brauchen, um hinüberzukommen.“
„Das wissen wir“, sagte Meneas. „Wir werden versuchen, in Landsende eins zu bekommen. Aber das waren zunächst einmal gute Nachrichten.“
„Wir werden euch jetzt wieder verlassen“, sagte Ithlor. „Ihr seid bald in Sprotthausen.“
„Ja, übermorgen brechen wir von dort wieder auf. Zunächst brauchen wir ein wenig Ruhe.“
„Das verstehen wir. Dann werden wir euch zwischen Sprotthausen und Landsende wiederfinden.“
Mit mächtigen Flügelschlägen erhoben sich die beiden Drachen in die Lüfte und wurden schnell zu kleinen Punkten, die bald verschwanden.
„Wenigsten haben wir es dieses Mal nicht mit den Ax´lán und den Priestern zu tun“, war Solvyn erleichtert.
Diese Hoffnung teilten alle, wenn auch nicht jeder davon überzeugt war.
Die Stadt hatte sie wieder. Die Reiter sahen erschöpft und unübersehbar heruntergekommen aus, aber daran nahm niemand Anstoß. Städter waren ganz andere Anblicke gewöhnt und daher wurden sie am Stadttor auch nicht besonders neugierig oder misstrauisch gemustert oder sogar angehalten.
Ihr Weg führte sie durch die von Lärm erfüllten Straßen geradewegs zum Hafen, wo das Gasthaus »Zum verlorenen Anker« stand. Auch wenn einigen unter ihnen das städtische Treiben nicht sonderlich behagte, so waren sie dieses Mal doch froh, eine halbwegs vertraute und sichere Umgebung um sich herum zu haben. Und sie waren zu erschöpft, um sich um irgendwelche Späher des Ordens von Enkhór-mûl Gedanken zu machen.
Der Wirt erkannte sie sofort wieder, war aber erschrocken, was diese wenigen Tage seit ihrer Abreise aus seinen damaligen Gästen gemacht hatten. Natürlich fiel ihm sofort auf, dass einer fehlte. Erest, glaubte er sich zu erinnern, war sein Name. Doch auf seine Frage bekam er nur die traurige Antwort, dass er einen tödlichen Unfall hatte und sie baten ihn, sie nicht weiter über den Hergang auszufragen.
Es waren genug Zimmer vorhanden, und nachdem sie ihre Pferde zwei Knechten übergeben hatten, brachten sie ihr Gepäck hinauf. Nach einem gründlichen Bad und einer ordentlichen Mahlzeit gingen sie auf ihre Zimmer, so früh, wie schon lange nicht mehr in einem Gasthaus. Und das erste Mal, seit sie den »Einsamen Posten« verlassen hatten, schliefen sie tief und fest und ohne wirre Träume bis zum späten Vormittag des folgenden Tages. Nur Valea verfolgten merkwürdige Erinnerungen an die Nacht bis spät in den Nachmittag.
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