Meine Balkonkabine war etwa 25 qm groß, da hätte man problemlos vier Personen unterbringen können. Der Balkon mit seinen zwei Liegestühlen und einen Ablagetisch mochte zehn Quadratmeter messen. Wenn man in die Kabine hereinkam, sah man zuerst das große Glasfenster vor dem Balkon mit seiner Schiebetür, von denen das Licht auf eine Couch und die beiden zusammenstehenden Betten fiel. Es gab einen Stuhl hier drinnen und einen kleinen Tisch, Kleiderschränke und einen Schreibtisch mit zwei herausziehbaren Fächern. Ein Fernseher befand sich an der Wand, genau dem Bett gegenüber. An Lampen mangelte es nicht. Deckenleuchten, Wandlampen, Leselampen. Wenn man gegenüber vom Balkon an der anderen Seite der Kabine vor einem Schrank stand, war man gut verdeckt vor allen, die mal zur Tür hereinkommen wollten. Das konnte natürlich nur, wer die richtige Bordkarte besaß, und die hatten ich und Jimmy. Man hätte also gut und gern an dieser Stelle der Kabine Verstecken spielen können – der Gedanke amüsierte mich. Eine Stunde später fand ich ihn nicht mehr so lustig.
Ab zehn Uhr deutscher Zeit, also hierzulande um Neun, begann auf Deck 6 die Gesichtskontrolle. Ich schnappte mir den Rucksack, steckte den Reisepass in die Gesäßtasche meiner schwarzen Jeans und verließ die Kabine. Im Treppenhaus, am Fahrstuhl, begegnete ich den „Überglücklichen“. Sie strebten nicht nach unten wie die meisten Passagiere, sondern wollten offenbar hinauf aufs jetzt leer werdende Pooldeck, um sich in zwei Liegestühlen zu sonnen. Es wunderte mich nicht, dass sie sich an den Händen hielten, sich ständig gegenseitig in die Augen schauten und sie ihrem Mann oder Freund zärtlich am Ohrläppchen knabberte.
„Hallo!“, sagte ich.
Sie halloten zurück.
„Ich heiße übrigens Thomas“, lächelte ich sie an. „Thomas Webb.“
„Hendrik Nimmer“, stellte sich mein Gegenüber vor. „Nimmer wie niemals“. Er lachte.
Seine Begleiterin reichte mir eine schmale, kühle Hand. „Silvana Nimmer-Oede.“
Ich verkniff mir ein Grinsen bei ihrem Familiennamen. Man ist ja seit Jahren viel gewohnt. Leutheusser-Schnarrenberger. Kramp-Karrenbauer. Und jetzt: Nimmer-Oede. Mit dem Namen hätte sie Bundeskanzlerin werden können.
Doch da machte es schon „pling“ und ihr Lift kam. Sie winkten mir beide noch einmal aus dem Fahrstuhl zu, ehe sie nach oben entschwanden.
Sie waren also miteinander verheiratet, auch wenn sie sich ständig benahmen, als hätten sie sich gerade erst kennen gelernt. Ihre Ehe hatte die Liebe noch nicht getötet. Ein beneidenswertes Paar.
Ich wollte die drei Etagen zu Fuß hinunterlaufen und nahm die Treppe. Auf dem nächsten Absatz stand der „Loser“ und buddelte in einem Beutel herum. Er sah mich mürrisch an und murmelte etwas von „Ausweis verkramt“, und sein Blick war so, als hätte ich sein Personaldokument versteckt. Ich nickte ihm freundlich zu, während ich an ihm vorbei ging.
Auf Deck 6 hatte sich vor dem Ausgang eine Schlange gebildet. Alle wollten raus aus dem Schiff, aber die Passkontrolle verzögerte den Landgang. Allen voran drängten sich jene, die für gutes Geld einen Landausflug gebucht hatten und jetzt zu ihren Bussen wollten. Die einen zog es auf die längere Fahrt nach London, andere zu den mysteriösen Steinformationen von Stonehenge, einige hatten sich für einen Besuch der Isle of Wight entschieden, manche für die zauberhaften Exbury Gardens mit ihren traumhaften Blumen – eine Anzahl wollte hier in Southampton bleiben und die Stadt erkunden, so wie ich.
An der Wand des Ganges, überhaupt nicht eingereiht in die Schar der Ausflugswilligen, drückte sich mit desinteressiertem Gesicht ein inzwischen alter Bekannter herum – der „Spanner“. Als er meinen Blick bemerkte, drehte er sich abrupt um und verschwand dorthin, wo ich hergekommen war. Der Kerl war mir unheimlich. Was mochte Paul mit ihm zu tun haben?
„Das Wetter ist klasse“, sagte direkt vor mir in der Reihe ein älterer Mann in kurzen beigen Hosen, die seine knotigen Krampfadern voll zur Geltung brachten, zu seiner mausgrauen Frau. „Da kann ich wieder prima Bilder für unser Fotobuch schießen…“
Ich zuckte zusammen.
Der Fotoapparat. Meine Nikon. Ich hatte sie in der Kabine auf der Couch liegengelassen. Verärgert machte ich auf dem Absatz kehrt, um zum Lift zu marschieren. Er kam nicht gleich, das senkte meine Laune noch mehr. Schließlich hielt ein Fahrstuhl an und spuckte eine Schar ausflugslustiger Leute aus. Ich wartete, bis sie ausgestiegen waren, und fuhr in die Neun hinauf. Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben, schimpfte ich mit mir selbst, während ich dann die Bordkarte an den elektronischen Öffner der Kabinentür hielt. Eine winzige Lampe blinkte grün auf. Ich drückte die Klinke herab und betrat die Kabine, um den Fotoapparat zu holen.
Ich kam etwa drei Schritte weit.
Man konnte sich wirklich ausgezeichnet hinter dem Schrank links hinter dem Eingang verstecken.
Ich sah gar nicht, wer oder was es war, sondern verspürte nur den Schlag gegen den Kopf. Es war, als hätte jemand mit einem Vorschlaghammer dagegen gehauen. Ich ging zu Boden wie ein gefällter Baum.
Jemand stieg über mich hinweg. Die Tür knallte gleich darauf zu. Ich blieb unten auf dem Fußboden liegen, so wie es mich dorthin befördert hatte. Fuhr mir nur mit der Hand über die Stirn.
Blut!
Auf allen Vieren rappelte ich mich auf. Öffnete die Tür und schaute hinaus. Irgendwo Schritte. Aber niemand zu sehen.
Ich taumelte einige Meter den Gang entlang. Dann meinte es das Schicksal mit mir gut und ich wurde ohnmächtig.
6. Kopfschmerzen
Das Nächste, das ich sah, als ich wieder zu mir kam, war der etwas konfus wirkende Blasius, der sich mit wirrem Haarschopf und besorgtem Gesicht über mich beugte. Ich fragte mich, auf welche Weise er so plötzlich hergekommen sein konnte, um mich vom Fußboden aufzulesen. Mit dem Fluxkompensator, mit dem er im Film durch Zeit und Raum geeilt war? Er war ausgehfertig angezogen. Weiße Hose, weiße Jacke, darunter ein gelbes Shirt mit der Aufschrift „Mr. President“.
„Hören Sie mich?“, fragte der alte Mann. Seine Stimme klang besorgt. „Meine Frau ist schon los, um jemand vom Schiff zu Hilfe zu rufen.“
Der Jemand vom Schiff, der sich einige Minuten später über mich beugte, war einer der beiden Sicherheitsoffiziere der „Bella Auranta“. Er war noch jung, kaum fünfunddreißig, steckte in hellen Hosen und in einem weißen Hemd, auf dessen Achseln dunkle Schulterklappen mit drei goldenen Streifen zu sehen waren. Er musterte meinen geschundenen Kopf und half mir, mich soweit aufzurichten, dass ich mich sitzend gegen die Wand des Ganges lehnen konnte.
Dann holte er ein Handy vom Gürtel, redete hinein und nickte mir zu.
„Die Ärztin kommt gleich…“
„Ich brauche keine Ärztin“, protestierte ich, wusste aber, dass ich eine benötigte. Mein Kopf brummte, als hätte sich ein Bienenschwarm in ihm niedergelassen. Und ich fühlte mich unsagbar benommen,
Es dauerte nicht lange, bis die Schiffsärztin in Begleitung eines Sanitäters anrückte, beide in schneeweißen Uniformen, die Dame auch mit drei Streifen auf den Schulterklappen ihres Uniformhemdes. Der Sanitäter schob einen Rollstuhl vor sich her, an dem eine Sauerstoffflasche befestigt war. Im Rollstuhl lag eine große Tasche, auf der ein rotes Kreuz und die Inschrift „Defibrillator“ prangten. Offenbar hatten sie das Schlimmste befürchtet. Aber da hatten sie sich geirrt. Ich war nicht mal scheintot.