Nachdem das alles klar war, gab der Alte durch eine Kopfbewegung zu verstehen, Turner und Rosseliani könnten gehen. Der Agent im schwarzen Anzug war schon durch die Stahltür verschwunden, als Bride noch einmal Turner mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich winkte. Er erhob sich und flüsterte seinem Gegenüber etwas leise ins Ohr. Turner verzog keine Miene, nickte und verschwand ebenfalls im Vorraum, wo Rosseliani sein Handy und seine Laptoptasche wieder an sich nahm.
„Man hat mir eben gesagt, es gibt noch eine kleine Aufgabe für uns“, sagte Turner. „Wir machen noch einen kurzen Ausflug nach Anacostia.“
„Ausgerechnet dahin?“ Der andere war nicht begeistert. Es war Abend, draußen musste es schon dunkel sein und dieses Washingtoner Viertel fünf U-Bahn-Stationen vom Weißen Haus entfernt hatte mit seinen etwa 150 Morden im Jahr keinen guten Ruf.
Aber Befehl ist Befehl. So stiegen beide, scheinbar nicht zusammengehörend, einzeln eine Stunde später aus der Metro aus, die einen Seitenarm des Potomac unterquert hatte. Sie liefen getrennt durch schlecht beleuchtete Straßen. Nachdem einige Reihenhäuser hinter ihnen lagen, gelangten sie zu einem Fabrikgelände, das von einer langen Mauer umgeben war. Nur eine einzige Straßenlaterne funzelte vor sich hin. Die Gegend war echt gruselig. Turner sah Rosseliani an, dass er sich hier in seiner Haut nicht wohl fühlte. Er kam näher heran, ganz dicht und fragte: „Was haben wir hier zu suchen?“
Turner antwortete nicht, sondern zog eine Pistole aus einem Schulterholster unter der Jacke. Rosselianis Augen weiteten sich. Im letzten Moment seines Lebens hatte er begriffen. Er war ein lästiger Mitwisser geworden und hatte seine Schuldigkeit getan.
„Nein!“, schrie er und noch etwas, aber das wurde von drei Schüssen übertönt.
Als er auf dem Boden lag, durchsuchte Turner seine Taschen. Brieftasche, Armbanduhr, Handy, Bargeld – alles verschwand in der Ledertasche, die Turner bei sich trug. Zwei Minuten später lag nur noch Rosseliani im trüben Licht neben der Mauer, während sich Schritte entfernten.
Man würde die Leiche finden – heute Abend noch oder in der Nacht oder morgen und die Polizei würde wieder einen Raubmord in diesem Viertel registrieren.
Wie hundertfünfzig Mal jedes Jahr.
3. Mahlzeit
Kurz nach der üblichen Seenotrettungsübung vor Ablegen des Schiffes, der einzigen Pflichtveranstaltung für alle Passagiere während der Reise, bei der ich die Schwimmweste anlegen musste, ging ich noch einmal in die Kabine. Ich machte mich rasch frisch, um zum Abendessen zu gehen. Es gab drei Buffetrestaurants an Bord der „Bella Auranta“ und ich entschied mich für das „Vista Belissima“ auf Deck 11. Ich weiß nicht, ob das die klügste Entscheidung gewesen war – die kleineren Tische waren alle schon besetzt, vor den Buffets wuselten die Leute mit ihren Tellern in der Hand hektisch durcheinander, als hätten sie drei Jahre nichts zu essen bekommen und man musste Schlange stehen, ehe man dazukam, sich etwas zu nehmen. Vielleicht hätte ich in eines der Bedienrestaurants gehen sollen, aber ich war nun einmal hier und auch hungrig genug, um dazubleiben.
Ich packte mir etwas aus den Schüsseln mit Antipasti auf meinen Teller. Mit Frischkäse gefüllte Paprika, getrocknete Tomaten, Oliven, Auberginenstreifen, halbe Cherrytomaten, kleine Zwiebeln und Salate. Damit strich ich durch die Reihen der Tische, um einen Platz zu finden. Und an einem großen Neunertisch wurde ich tatsächlich schnell fündig.
„Darf ich – ist hier noch frei?“, fragte ich in die Runde der anderen Leute, die im Kreis herumsaßen und sich die Bäuche vollschlugen.
Einer nickte kauend und brachte ein „Gern!“ mit vollem Mund heraus, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Sie kennen das: Wenn man isst und dabei „Mops“ sagt, dann passiert etwas.
Ich setzte mich, stellte meinen Teller vor mich hin, griff zur Serviette und breitete sie auf meinen Schenkeln aus, goss mir Mineralwasser in ein Glas und griff zum Besteck.
„Guten Appetit!“ krächzte einer aus der Runde, ein Mann, scheinbar um die Neunzig, der nicht mehr sehr fit aussah, aber es bis aufs Kreuzfahrtschiff und ins Restaurant geschafft hatte. Er hatte wirres schlohweißes Haar, das ihm weit vom Kopf abstand, und trug ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift „1976 San Francisco“. Insgesamt sah er aus wie „Doc Brown“ aus „Zurück in die Zukunft“. Er stellte sich uns auch gleich vor und sagte, wir sollten ihn „Blasius“ nennen. War das nun der Vorname oder der Familienname? Egal! Ich dankte ihm und betrachtete verstohlen die anderen Frauen und Männer am Tisch. Ein schlanker Fünfziger erinnerte vom Aussehen her an einen Klempner, der einst in meiner Wohnung gearbeitet hatte. Da er in die Toilettenleitung bohrte und das Bad unter Wasser setzte, hatte ich ihm insgeheim den Spitznamen „The Loser“ verpasst und dafür gesorgt, dass die Firma, eine frühere DDR-Sanitär-PGH, mir später jemand anderes schickte, wenn etwas kaputt war. Der Bursche hier mir schräg gegenüber sah mit seinem schmalen, aber nicht unangenehmen Gesicht und den etwas abstehenden Ohren diesem Nichtskönner zweifelsohne sehr ähnlich, und ich musste grinsen.
Sehr liebevoll miteinander turtelte ein Pärchen, das links neben mir saß und mir freundliche Blicke zuwarf. Sie hatten zwar auch schon das vierte Jahrzehnt hinter sich, aber sie wirkten ungemein vertraut und verliebt. Sie sahen sich immer mal wieder gegenseitig an, während sie auf ihren Tellern gabelten und einmal legte er seine linke Hand auf ihre Rechte. Sie sah ihn sofort an – ihre Augen sagten alles. Ich überlegte, ob sie sich vielleicht auf der Hochzeitsreise befanden, aber schließlich ging mich das nichts an. Der Rest am Tisch war durchwachsen vom Alter her bis auf Blasius und dessen Frau, eine Blondine von etwa fünfundachtzig Jahren, die genauso viele Falten im Gesicht hatte wie kurzgeschorene blondierte Haare auf dem Kopf und auch ein fetziges Shirt trug mit dem Aufdruck „Auch böse Frauen kommen in den Himmel“. Ich bewunderte insgeheim die beiden Alten, weil sie so sehr aus der Zeit gefallen waren und auch, weil sie sich noch einmal auf große Fahrt begeben hatten. Sie merkten wohl, dass ich sie anschaute, und sie warfen mir ein Lächeln zu. Ehrlich – ich mochte sie auf Anhieb.
Von einem der Nachbartische kam lautes Geschimpfe. Einer der dort Essenden regte sich auf, dass wir bei der Rettungsübung über eine halbe Stunde nur herumgestanden hatten, ehe es losging. Natürlich waren wieder einmal die fehlenden Passagiere daran schuld gewesen, die es nicht für nötig gehalten hatten, rechtzeitig zur Musterstation zu kommen. Trotz des Alarmsignals, das die Übung ankündigte, hatten sich drei Fehlende weiter im Pool auf dem Sonnendeck vergnügt. Zwei andere waren noch voll beim Sex zugange, als ein Mitglied der Crew ihre Meerblickkabine kontrollierte, um das Evacuated-Schild anzubringen. Und in einer Innenkabine hatte man ein alleingelassenes schlafendes Baby gefunden, dessen Eltern drei Decks tiefer mit Rettungswesten am Körper auf den Beginn der Übung warteten.
Beim Nachtisch kam es an unserem Tisch beinahe zum Eklat. Eine der Damen hatte den „Loser“ gefragt, warum er allein reise. Der wackelte bedenklich mit dem Kopf, ehe er erklärte, dass eigentlich sein Vater hätte mitkommen sollen. Aber der sei plötzlich verstorben. An einem Blutsturz. Und der Loser begann anschaulich vorzuführen, wie seinem Erzeuger das Blut aus dem Mund gekommen und über die Brust gelaufen war.
Alle legten die Löffel und Gabeln weg. Auch ich fand das eklig.
„Wir essen!“, sagte der männliche Teil des Liebespaares. Er schüttelte den Kopf. „Hören Sie auf – das ist ja schrecklich!“
Wir waren alle froh, als der „Loser“ wieder wortlos mit einem beleidigten Gesicht an seinem Vanilleeis mit Blaubeersauce löffelte, endlich aufstand und verschwand. Unser Tisch leerte sich. Die meisten waren satt. Das Liebespaar, „die Überglücklichen“, wie ich sie taufte, sagte „tschüss“, und auch die beiden Alten gingen weg. Nur zwei Frauen mit raspelkurzen Haaren, nicht älter als dreißig, in geblümten Hosen und farbigen Hängern, schaufelten noch Berge von Essen in sich