Von traurigen Gedanken gefesselt, blieb sie noch eine Weile reglos im Auto sitzen.
Die Operation hatte sie schließlich gut überstanden. Als sie wieder zu Kräften kam, spürte sie Wut, eine große Wut auf ihre alte Firma, der sie sich regelrecht aufgeopfert hatte. Insbesondere Undankbarkeit und Unwürdigkeit der Entlassung hinterließen tiefe Wun-den in ihrem Herzen, Wunden, die nicht verheilen woll-ten. Sie pflegte noch Kontakte zu Herbst und zu Brás, mit denen sie sich regelmäßig traf. Sie sprach immer von der Vergangenheit. Jedes Mal fragte sie voller Zorn und Bitterkeit, was Bergstein und ‚seine Dicke‘ machen würden. Sie informierte sich über jede Ände-rung und Entwicklung im Unternehmen und kom-mentierte sie. Über ihre Nachfolgerin äußerte sie sich immer herablassender und aggressiver.
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Brás hatte dichte dunkle Haare, braune Augen, einen etwas schiefen Mund und ein ovales Gesicht. Er war mittelgroß und schlank. Brás war ein fröhlicher Mensch, witzig. Immer strahlte er Freude und Optimis-mus aus. Diese Charaktereigenschaften halfen ihm, in jedem Ereignis das Positive zu sehen. So glaubte er felsenfest daran, dass allen düsteren Erlebnissen helle Zeiten folgten. Das Bewältigen auftretender Schwie-rigkeiten bereite ja schließlich eine große Freude. Seine innere Ruhe äußerte sich in seinem entspannten Gesicht, lachenden Blicken und leichten Bewegungen. Andererseits war er scheu und unsicher, er vermied direkte Augenkontakte und lief nicht selten verträumt durch die Gegend, versunken in seinen Gedanken, die ihn von der Außenwelt abschirmten.
Brás war wie ein von Menschenhand nicht berührter glasklarer Fluss in den Bergen oder in der Wildnis, und genauso klar und rein sah er seine Mitmenschen. Sein Herz war weich wie Samt, und jede Äußerung, jeder Blick und jedes Verhalten eines anderen landete direkt in der Tiefe dieses samtweichen Herzens. Umgekehrt reagierte er auf seine Mitmenschen eben mit dieser Weichheit und Reinheit seines Herzens. Es offenbarte sich in ständigem Lächeln und steter Hilfsbereitschaft, was einigen Gesprächspartnern oft übertrieben, fremd, ja künstlich vorkam und entsprechende Reak-tionen nicht verbergen ließ. Solche Reaktionen verletz-ten Brás oft. Das geschah schnell, weil er nur an die positiven Seiten des Menschen dachte, im Grunde naiv war und mit seinem Verhalten seine Freundlichkeit, Offenheit, Menschlichkeit sichtbar machen wollte. Mit achtzehn Jahren war er nach Deutschland gekommen, ganz allein und ohne Geld. Er war geflohen vor un-überwindbarer Armut und vor seiner desolaten Fami-lie. Er träumte von einem Leben in Deutschland mit offenen, freundlichen und kultivierten Menschen, mit Arbeit und ohne finanzielle Sorgen. Schon zu Beginn seiner Migration hat er feststellen müssen, dass sich die Menschen in den Industrieländern nicht weniger darwinistisch verhielten als die Naturvölker; es galt das Recht des Stärkeren, und um besser oder länger leben zu können, war man bereit, sich den Veränderungen mehr als wirklich nötig anzupassen. Sie liefen stock-steif, als wären sie ferngesteuert. Sie sprachen, lach-ten und aßen, als wären sie allein auf der Welt. Sie hatten die Fähigkeit, mit ihren Blicken und Verhalten das Vorhandene nicht vorhanden, das Geschehene ungeschehen zu machen, mit offenen Augen den Nebenstehenden nicht zu sehen, die Ereignisse, die sie nicht betrafen, nicht wahrzunehmen. Diese Fähigkeit der Menschen, diese Anpassung wirbelte Brás‘ Welt durcheinander. Er fand den Industriemenschen zwar technisch entwickelt, jedoch sozial schwach, ego-istisch und mit Vorurteilen behaftet. Einerseits verhielt er sich im Allgemeinen ungezügelt, andererseits lebte er sehr unfrei. Die Freiheit war auf die Freiheit des Ka-pitals reduziert, auf die Reisefreiheit und die Freiheit, politisch ungefährliche Meinungen zu äußern. Der höchste Wert, das höchste Gut, die Arbeit, fesselte die Menschen wie ein Kerker Fledermäuse, und dement-sprechend sahen sie die Welt. Dank technischer Errun-genschaft hielten sie fest am Glauben, dass der ein höherwertiger Mensch sei, der einer höherwertigeren Kultur angehört, und dass allein seine Werte und Nor-men allgemeingültig, abweichende aber minderwertig seien. Der Industriemensch beobachtet seinen Mit-menschen immer aus einer psychologisch-überheb-lichen und einer neidischen Perspektive, je nach seiner Lage in der Gesellschaft, und er schreibt diesem jeweils passende Eigenschaften zu, um sich selbst gut zu verorten, ja, um sich besser und wertvoller als der andere zu fühlen. Diese unsichtbare Mauer, gegen die jeder Fremde aus einem Land prallt, das industriell nicht hoch entwickelt ist, stößt und wirft ihn in die dunkelsten Bräuche und Traditionen seiner Kultur zu-rück. Er findet keine Offenheit vor, sondern Abschot-tung und Ablehnung. Man nimmt ihn nicht auf, man sondert ihn ab. Auch die einschlägigen Gesetze und Verordnungen engten seine Bewegungsfreiheit ein. Er konnte nicht einfach dorthin hingehen, wohin er woll-te. Bald fühlte sich Brás einer doppelten Beobachtung und Überwachung ausgesetzt: zum einen als Mensch, wie jeder andere in der gesellschaftlichen Hierarchie, und zum anderen als Fremder, von dem jede Äußerung und jedes Verhalten besonders beäugt, beurteilt, bewertet und begutachtet wird. Man wollte ihn in einen bestimmten Rahmen, in eine bestimmte Rolle zwängen. Was den anderen nicht passte, wurde mit verbaler Gewalt passend gemacht. Er spürte schmerz-haft, wie die Blicke auf ihm hafteten, wie Vorurteile ihn auf Schritt und Tritt verfolgten. Er war Gefangener dieser Blicke und Gedanken, und wenn er sich das klar machte, ahnte er, dass die Flucht ihm zu einer viel tieferen Enttäuschung geworden war als sein Leben in Armut.
Andere machte das verschlossen, sie kapselten sich ab. Doch er blieb offen, mehr noch: Die Enttäuschung weckte in ihm einen Riesen aus tiefem Schlaf. Eigen-sinn und Trotz traten aus ihm heraus wie der Geist aus Aladins Lampe und standen ihm fortan zur Seite. Er spürte in sich eine Kraft wachsen, die er bisher nicht gekannt hatte. Jetzt wollte er kämpfen, um die weißen Blicke weißer zu machen, um nicht als Verlierer oder Versager dazustehen, um in der Gesellschaft anzu-kommen, deren technische Entwicklung, Disziplin und Ordnung er doch so bewunderte.
Es war seine erste Arbeitsstelle, er hatte noch keine Er-fahrung mit der Arbeitswelt. Er wurde als studentische Aushilfe eingestellt, um den Betriebsrat stundenweise bei der Schreibarbeit zu unterstützen. Er war schüch-tern, höflich und unsicher. In Gegenwart mehrerer er-rötete er, wenn er sprach, war sichtlich aufgeregt, machte grammatikalische Fehler, verschluckte die End-silben und seine Stimme war zittrig. Er ärgerte und schämte sich, wenn er seine Stimme hörte oder sich vorstellte, wie seine Stimme sich anhören würde. Der Betriebsratsvorsitzende unterstützte ihn, informierte ihn über die Abläufe im Betrieb, klärte ihn auf, erläu-terte ihm das Betriebsverfassungsgesetz, das er sehr gut kannte, und erzählte ihm von Rhetorikkursen, die die Manager besuchen, die er aber auch besucht hätte. Er würde auch für Brás einen Kurs beantragen. Brás war trotz seiner Schüchternheit sehr motiviert und kontaktfreudig und verstand die Zusammenhänge schnell. Im Schriftlichen war er gut, sogar ausdrucks-stark. Er tippte alle Briefe und Protokolle des Betriebs-rates ab und korrigierte sie, er erstellte Tabellen und Graphiken und ein Informationsheft mit allen wichti-gen Angaben für Mitarbeiter. In kurzer Zeit wurde er wegen seines Fleißes, seiner guten Auffassungsgabe, seiner Kenntnisse und wegen seiner Offenheit sehr geschätzt und anerkannt. Nach Abschluss seines Studiums wurde er schließlich in ein festes Arbeitsver--hältnis übernommen. Er sollte in der Abteilung Arbeits-sicherheit und Umweltschutz dem Sicherheitsinge-nieur beistehen, der unheilbar krank war und mehrere Monate im Jahr fehlte.
Von da an schien das Glück auf seiner Seite zu sein. Er erledigte sämtliche Korrespondenz mit Behörden, Berufsgenossenschaften und Entsorgungsfirmen. Er schrieb die Betriebsanweisungen über den Umgang mit Gefahrstoffen, überwachte die Einhaltung der Vor-schriften und Schutzeinrichtungen und das Gefahr-stofflager und erstellte ein Sicherheitshandbuch mit allen verwendeten Gefahrstoffen und dem Verhalten im Notfall. Diese positiven Veränderungen eines brach-liegenden, vernachlässigten Bereiches brachten ihm großes Lob ein. Das belebte ihn spürbar, sein Gesicht bekam Farbe, die Augen glänzten, Lachen erhellte sein Gesicht. Er strahlte. Sein ganzer Körper, sein ganzes Auftreten zeigten, wie erfüllt von Freude er war. Er lief federleicht und immer aufrechter, und er trat immer gepflegter auf. Schüchternheit und Unsicherheit schwan-den allmählich. Dazu hatte er weiter Glück, denn damals kündigte die Sekretärin der Personal-leitung. Die Personalchefin, Bettina Schultheiß, die über Brás gut informiert war und ihre Arbeit allein nicht bewältigen konnte, holte Brás zu sich. Sein Herz klopfte wie am ersten Tag. Denn Schultheiß war eine Respektperson, die er zunächst nicht einschätzen konnte. Und von dem neuen Arbeitsgebiet hatte er auch kaum Ahnung. Er wusste