Wie ein Kreuzverhör war das in einem dunklen, blass beleuchteten, kahlen und kühlen Raum voll von laut hallenden Stimmen und unwirklichen Gesichtern. Wie ein Erdbeben war das, das keinen Stein auf dem anderen ließ. Wie Bruchstücke sah sie die Menschen, die Häuser, die Gegenstände, hörte sie die Stimmen. Sie war wie betäubt und benommen, getroffen wie von einem Schlag, angezählt. Als sie wieder zu sich kam, nach langem bewegungs- und wortlosen Stehen, nach langem Wanken, hallte in ihrem Ohr noch das Echo JENES Satzes: des Satzes, dass sie dieser Aufgabe nicht gewachsen sei. Das war der zweite Schlag, der ihr endgültig den festen Boden unter den Füßen wegriss und sie zum Schwanken brachte. Damals, als ihr Chef, Waldmann, als Geschäftsführer von jetzt auf eben entlassen worden war, hatte das ihre Bilder von Fairness, von menschlichem Umgang miteinander, von Treue und Liebe zum Beruf, von Anerkennung der Leistung, Berufsethik und von Würde zerstört wie ein brutaler Stiefeltritt eine Kugel aus feinem Kristallglas, und die scharfen Scherben, die spitzigen Splitter ritz-ten noch immer ihr feines Empfinden zu Blut. Das erste Mal, seit sie dem Betrieb angehörte, entstand eine Distanz zwischen ihr und ihrem Beruf, zwischen ihr und der Firma. Ihr ganzes Berufsleben, ihren ganzen Einsatz, alles, was so lange Jahre ihr Leben erfüllt hatte, den Betrieb, all das fand sie mit einem Mal schal, sinnlos und fremd.
Dann kam der Tag, an dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie künftig einen neuen Vorgesetzten über sich haben würde. Wie sie jetzt erfuhr, hatte man, ohne sie zu informieren, den Posten eines Deutschlandkoordi-nators für die Personalabteilungen geschaffen, direkt unterhalb der Geschäftsführung, dem sie also nun unterstellt war. Das war ein Vorgesetzter, der wie eine Rakete durch die geschlossene Tür schoss (die Tür vib-rierte hinterher noch eine Weile), eine Frage stellte, mit unverminderter Geschwindigkeit den Raum ver-ließ, um etwas später auf die gleiche Art und Weise wiederzukommen und die Frage erneut zu stellen, ohne jede Rücksicht darauf, was der Andere gerade machte. Ein Vorgesetzter, der in das Büro von Schult-heiß oder Brás kam, dort von seinem Handy aus tele-fonierte, im Raum umherschreitend, als wäre er allein bei sich zuhause, oder, auch das kam vor, den Fest-netzanschluss benutzte, um ihn manchmal für Stunden zu blockieren. Oder er platzte in eines der Büros, setzte sich an den Tisch und holte einen Stapel Akten aus seiner Tasche, die Schultheiß oder Brás sofort zu erledigen hatten, unabhängig davon, was sie gerade taten oder noch zu tun hatten. Er mischte sich in ihre Gespräche ein oder unterbrach sie. Er schickte Mitar-beiter, die die Personalabteilung aufgesucht hatten, einfach weg, ohne sie nach ihrem Anliegen gefragt zu haben. Er stellte ständig Suggestivfragen zu Mitarbei-terbetreuung, Mitarbeitereinsatz, Mitarbeiterbeschaf-fung oder zur politischen Überzeugung. Er sprach in erhöhter Stimmlage und bekam ein puterrotes Ge-sicht, wenn die Antwort ihm nicht gefiel, oder wenn man ihm widersprach. Er stellte alles, was bisher als anständig, gut und richtig gegolten hatte, infrage oder auf den Kopf und lief dabei ständig mit einem blasier-ten Lächeln herum. Dieser neue Vorgesetzte der Perso-nalleitung, Schultheiß́ neuer Chef, hieß Eberhard Berg-stein.
Bergstein ließ nicht mit sich reden. Die Argumente, die er vorbrachte, dienten allein dazu, bei seinen Ge-sprächspartnern lähmende Angst zu erzeugen. Ein Arbeitnehmer dürfe sich nie darauf verlassen können, dass sein Job sicher sei. Nicht das Interesse der Mitarbeiter an einem sicheren Arbeitsplatz – diese Art zu denken sei ohnehin eine deutsche Krankheit, die es sonst nirgendwo auf der Welt gäbe – zähle, sondern das berechtigte Profitinteresse des Unternehmens und seiner Aktionäre, und das müsse mit allen Mitteln und notfalls "mit aller Gewalt" erfüllt werden. Kündigungs-schutz und Mitbestimmung? Das würde die Arbeits-plätze in Deutschland vernichten und noch dazu das Betriebsklima vergiften! Langjährige Betriebszugehö-rigkeit? Nichts weiter als ein Beleg der Immobilität und Engstirnigkeit des betreffenden Arbeitnehmers! Identi-fikation mit dem Unternehmen? Eine lächerliche emo-tionale Schwäche!
Schultheiß hingegen hatte eine völlig konträre Sicht der Dinge, wusste sie doch aus ihrer langjährigen Tä-tigkeit in der Personalführung um die Bedeutung wechselseitigen Vertrauens zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und eines stabil funktionierenden Bezie-hungsgeflechts zwischen ihnen. Obwohl sie selbst-bewusst war und es ihr normalerweise an Mut nicht mangelte, hinterließ Bergsteins Haltung auch bei ihr Spuren. Als er sie mit seinen zynischen Sprüchen kon-frontierte, reagierte sie ebenso perplex wie erschüt-tert. „Aber …. Aber …“, brachte sie mühevoll hervor, „Aber das sind doch Menschen. Die haben alle Familie. Ein sicheres Einkommen bedeutet für sie die Sicherung ihrer Existenz. Diese Menschen brauchen Planungs-sicherheit …“
„Nichts aber“, entgegnete Bergstein, den Kopf noch mehr nach links beugend. Wie immer, wenn er sich aufregte, begann er mit den Augen zu zwinkern, die Hitze schoss ihm ins Gesicht, und die Worte verließen motzend und spuckend seinen Mund: „Aber! Aber! Nichts aber! Das ist ausschließlich das Problem der Arbeitnehmer selbst, nicht unseres!“
So wurden seine Konturen langsam sichtbar: die Kon-turen einer Kreuzung zwischen Chamäleon und Hyäne. Die Konturen eines Wesens, das sich nicht wirklich greifen lässt. Von dem man nur weiß, es ist abgrundtief böse.
Eberhard Bergstein kam von einem großen Unterneh-men in Villbeck, das Haustierartikel herstellte. Anläss-lich seiner Einstellung erfuhr der Betriebsrat von den dortigen Kollegen, dass Bergstein als berühmtberüch-tigter Sanierer galt. Unter Sanierung würde er aus-schließlich die Entlassung von Personal verstehen. Um seine Ziele zu erreichen, würde er lügen, ohne rot zu werden, über Leichen gehen, sogar über die seiner ei-genen Frau. Er sei glatt wie ein Aal, herz- und emo-tionslos und würde aus allem und jedem Kapital für sich schlagen. In der letzten Zeit hätte er das Werk nur mit Leibwachen betreten und verlassen. Zwar hatte der Betriebsrat, als er das in Erfahrung gebracht hatte, bei der Geschäftsführung interveniert, seine Einstel-lung aber nicht verhindern können, und so hatte Bergstein seine Tätigkeit als Personalkoordinator hier schließlich doch aufgenommen — mit dem erklärten Ziel, die Tätigkeit der Personalabteilungen in Deutschland so zu vereinheitlichen und abzustimmen, dass die Vorgaben des Konzerns hundertprozentig umgesetzt würden, einschließlich der Einführung neu-er, Personal sparender Arbeitsmethoden.
Als Schultheiß diese Zusammenhänge zu erkennen be-gann, ging es ihr schlecht. Die Frische fehlte, alles ging ihr nur noch zäh und mühsam von der Hand. Zu allem schien sie sich zwingen zu müssen. Angestrengt hielt sie sich aufrecht, die Augen von dunklen Ringen um-geben. So quälte sie sich durch den Tag, und wer sie kannte, dem fiel auf, wie sehr sie immer mehr verlangsamte, und wie kraftlos und grau sie jetzt aussah.
Schultheiß war in ihrer 31-jährigen Betriebszugehörig-keit nie krank gewesen. War sie mal erkältet, schleppte sie sich trotzdem ins Büro. Die Ohren waren ihr wun-der Punkt, oft litt sie unter Ohrenschmerzen, eine Ope-ration hatte auch keine wirkliche Besserung gebracht. Obwohl die Schmerzen oft so stark waren, dass sie sie kaum ertrug, war sie immer zur Arbeit gegangen. Auch bei Migräneanfällen, die sie in der letzten Zeit häufiger heimsuchten, oder bei anderen Wehwehchen des Älterwerdens fehlte sie nie. Oft genug hatte sie ihren ohnehin knapp bemessenen Urlaub auch noch unter-brechen müssen — ganz zu schweigen davon, dass sie fast an jedem Wochenende gearbeitet hatte. Wie oft war sie an Sonntagabenden von Waldmann in die Firma zitiert worden, um ihm einige Dokumente zu-sammenzustellen oder ein paar eilige Briefe zu schrei-ben, die ihm kurz vor seiner Reise in die USA eben noch eingefallen waren. Und wie oft hatte sie dem Unternehmen zuliebe das gemeinsame Abendessen verlassen, ungeachtet aller Proteste ihres Lebens-partners, den sie krank und verärgert zu Hause allein ließ.
Sie war auf Fahrradtour am Bodensee, als es geschah. Sie fiel vom Fahrrad, einfach so, wie vom Blitz ge-troffen. Zum Glück hatte die Gruppe, mit der sie unter-wegs war, gleich ärztliche Hilfe geholt. Bei der an-schließenden Untersuchung wurde festgestellt, dass eine Herzklappe nicht mehr funktionierte und operiert werden musste. So blieb sie zum ersten Mal wegen einer Krankschreibung zu Hause. Noch während sie auf einen Operationstermin wartete, erlitt ihr Lebens-partner einen tödlichen Herzinfarkt; die Nachricht, dass Schultheiß schwer herzkrank sei und operiert werden müsse, hatte ihn zu sehr mitgenommen. Doch all das wurde überlagert von der eigenen Schwäche und vom Warten auf einen OP-Termin. Die Sache schien kompliziert, sie war auf die Hilfe von Spezia-listen in der Schweiz angewiesen,