Bergstein war sehr nachtragend. Wenn ein Mitarbeiter irgendwann aus irgendeinem Grund negativ auffiel, wurde er für immer als schlechter Mitarbeiter stigmatisiert. Nie erhielt er die Möglichkeit, sich zu verbessern oder zu zeigen, dass es sich um einen einmaligen Fehler gehandelt hatte. Sein einmaliges Fehlverhalten war das Einzige, was im Gedächtnis von Bergstein haften blieb, und das war schlimmer als ein Sieb. Er schlug jedes Mal zu — und wählte fast immer dieselben Mitarbeiter für den Personalabbau aus. Dabei vergaß er jedes Mal Wesentliches, sodass er bei dem einen oder anderen Mitarbeiter die Klage verlor oder die Kündigung aus den unterschiedlichsten Gründen zurücknehmen musste, wenn es darum ging, die Anzahl der Mitarbeiter zu reduzieren. Er zeigte oder er hatte keine Gefühle. Er sprach die Mitarbeiter, die entlassen werden sollten, ruhig und monoton an, am Mittagstisch, am Kaffeeautomaten, auf dem Parkplatz oder im Flur, eben dort, wo immer er sie gerade antraf, stets im Beisein von anderen, als würde er etwas Belangloses mitteilen.
Mitarbeiter, die aufgrund eines traurigen Ereignisses geschwächt oder nicht in der Lage waren, klar zu denken, erhielten sofort die Kündigung oder es wurde ihnen der Abschluss einer einvernehmlichen Verein-barung über die Beendigung des Arbeits-verhältnisses angeboten, die sie dann in ihrem schwachen Zustand unterschrieben. So wurde das Arbeitsverhältnis mit Rolf Schmidtbauer genau in der Zeit beendet, als seine Frau ihn mit dem einjährigen Baby plötzlich verlassen hat. Günther Wiechmann erhielt das Kündigungs-schreiben nach seinem Hirnschlag im Krankenhaus. Im Fall Wiechmann übertraf Bergsteins Verhalten jede Vorstellungskraft und zeigte wieder einmal, wie wenig fassbar sein gesamter Charakter war. Wiechmann war von der Firma Ambros abgeworben und als Vertriebs-direktor für den ostasiatischen Markt eingestellt worden. Er war 51-jährig, Vater von vier Kindern und Alleinverdiener. Mit der Wechselprämie hatte er den Kauf eines Hauses teilfinanziert. Am vorletzten Tag der Probezeit von sechs Monaten teilte ihm Bergstein mündlich mit, dass er die Probezeit nicht bestanden hätte und das Arbeitsverhältnis am kommenden Tag enden würde. Noch am selben Tag erlitt Wiechmann einen Hirnschlag. Am nächsten Tag mit dem regulären Beginn der Arbeitszeit bat Bergstein den Betriebsrats-vorsitzenden, Otto Roland, mit ins Krankenhaus zu gehen. Roland ging gerne mit, weil er wie alle Mitarbeiter dachte, der Besuch sei gedacht als Erfüllung einer Vorsorgepflicht des Arbeitgebers oder einfach eine nette Geste von Bergstein. Wiechmann befand sich noch auf der Intensivstation. Seine Frau und die älteste Tochter warteten allein in einem großen, kahlen und sterilen Raum sorgenvoll und mit roten Augen. Bergstein stellte sich vor und erkundigte sich monoton nach dem Befinden von Wiechmann. Sie wisse noch nichts, sagte die Frau, der behandelnde Arzt sei kurz da gewesen und hatte mitgeteilt, dass der Gesundheitszustand sehr ernst sei. Sie brach dann in Weinen aus. Roland umarmte sie und versuchte, sie liebevoll zu trösten. Kaum hatte sie sich beruhigt, zog Bergstein aus seiner Jackentasche einen Briefum-schlag und überreichte ihn Frau Wiechmann. Mit dem bekannten unveränderten Ton fügte er an, dass es ihm sehr leidtue. Die Firma sei gezwungen, das Arbeits-verhältnis mit ihrem Mann mit dem heutigen Tag aufzulösen. Sie und Roland schauten versteinert und fassungslos. Roland zitterte später vor Wut und schrie Bergstein an, der unbeeindruckt blieb. Infolge des Gehirnschlags hatte Günther Wiechmann eine Ge-sichtslähmung und konnte nicht mehr sprechen. Auch beide Beine waren gelähmt, er war so geschädigt, dass er den Rest seines Lebens auf den Rollstuhl angewie-sen bleiben sollte.
Die meisten Menschen sind froh gestimmt, wenn sie mit Sonnenstrahlen aufstehen. Sie fühlen sich erleich-tert, haben ein fröhliches Gemüt und wünschen sich, auf dem Balkon, im Garten oder in einem Straßen-café zu sitzen und ihren Kaffee zufrieden zu schlürfen, oder einfach in der Natur spazieren zu gehen oder das zu machen, wonach sie sich sehnen, was ihnen Freude bereitet. Oder sie packen mit Freude die liegen gebliebene Arbeit an. Sie sprühen vor Energie und wollen jede Sekunde der Zeit ausnutzen. Bergstein ergeht es ähnlich. Auch er streckt sich, wenn die Sonne scheint, wie die anderen Menschen zufrieden aus. Wie die anderen Menschen wird er hierbei sagen, wie schön das Wetter sei. Seine weiteren Gedanken unterscheiden ihn jedoch von denen anderer Men-schen. Wie ein Denkmal mit ausgestreckten Händen und offenem Mund und kleinen Augen, jedoch fixierten Blicks, wird er überlegen, wem er heute kündigen, wem er eine Abmahnung erteilen, wessen Bitte er ablehnen könnte. Bei schönem Wetter sind die Menschen optimistischer, können mehr ertragen, bei schlechtem Wetter sind sie betrübt. Eine schlechte Nachricht mehr oder weniger spielt keine Rolle mehr, denkt er. Oder er überlegt, mit welchem Verhalten, mit welchem Witz, mit welcher Machtdemonstration er wel-chem Mann oder ganz besonders welcher Frau er heute imponieren will. Er denkt zum Beispiel ernsthaft darüber nach, welche Kleidung die Vertriebsassistentin heute trägt, wie kurz ihr Minirock wohl sein würde, und mit welchem Vorwand er in ihre Nähe kommen kann. Er findet es unerträglich, wenn andere Menschen glücklicher, zufriedener oder besser gestellt sind als er. Wenn Mitarbeiter freudestrahlend von ihren -schönen Erlebnissen mit ihren Kindern, Freunden und Verwandten oder von irgendwelchen Feiern, von ihrem Urlaub erzählen, bekommt er rote Backen, wird nervös, schlägt mit den Fingern un-kontrolliert auf den Tisch oder Stuhl oder auf seinen Bauch oder seine Beine, macht eine unpassende Bemerkung oder schaut demonstrativ auf seine Uhr und steht unter dem Vorwand eines Termins auf, den er gleich wahrnehmen müsse. Jedes Gespräch, jede Unterhaltung ist für ihn todlangweilig, wenn er nicht der Mittelpunkt ist. Er erzählt immer von der Arbeit oder er reißt Witze, die bei Anwesenden aufgrund ihres Inhaltes oft ein tiefes peinliches Schweigen oder betroffene Blicke auslösen. Nur er lacht schallend darüber.
Weil Bergstein Gespräche bis zum Schluss dominieren und kontrollieren musste, verließ er den Betrieb oftmals als Letzter zu einer Pause. Oft kaufte er sich anschließend auf dem Rückweg ein Eis; wieder im Betrieb, vor der ganzen Mannschaft, aß er es dann wie ein reiches, verwöhntes und einsames Kind, das im Beisein von armen und mittellosen Kindern ganz be-sonders genussvoll an seiner Errungenschaft schleckt. Alle anderen Mitarbeiter gaben eine Runde Eis für alle aus. Auf Dienstreisen bestellte er nur für sich Bier, er hatte angeblich nie Bargeld, wenn andere Mitreisen-den gemeinsam etwas bestellten.
Jeder Mitarbeiter, der ihn einmal hörte oder im Umgang mit Mitarbeitern erlebte, war sicher, dass die Konzernleitung so ein Verhalten nicht lange dulden würde. Es würde die Mitarbeiter demotivieren und dem Ruf des Unternehmens schaden. Daher sei die Entlassung Bergsteins gewiss nur noch eine Frage der Zeit. Doch Bergstein stieg auf. Mit jedem Fall skrupellosen Verhaltens stieg er weiter nach oben.
Die Mitarbeiter spürten den ersten Knacks in ihrem positiven Denken über ihr Unternehmen. War das eine Demonstration von Macht? Oder meinte das Unterneh-men in Wirklichkeit das Gegenteil, wenn es immer wieder propagierte, seine Mitarbeiter seien das größte Kapital? Wo bleiben die Ethik-Richtlinien, die den Mitar-beitern jährlich eingetrichtert wurden?
Bergstein hatte seinen Dienstsitz in Fliedholz. Die Geschäftsführung hatte vor einem Jahr die Firmen-gebäude an der Bernhausener Landstraße verkauft und war ins Umland, eben nach Fliedholz gezogen. Nur die Produktion und die dazugehörigen Bereiche wie Fertigungsplanung, Logistik, Qualität und ein Teil der Personalabteilung waren in Villbeck geblieben.
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