Kapitel 3
Erika Ballmann liebte Kartoffelchips, Eis, Kuchen, Torten, Waffeln, Paradiesäpfel, Lebkuchen, Popcorn, Nachos und frische Donuts, besonders die mit der Schokoladenglasur. Und sie liebte ihren Mann Klaus, doch ihr Klaus liebte sie nicht mehr und darum wollte Erika nicht mehr leben. Sie verschloss die Garagentür mit der Fernbedienung und packte sich den Gartenschlauch, mit dem Klaus immer seine geliebten Rosen gewässert hatte. Ein Ende steckte sie in den Auspuff des Mercedes B-Klasse, den sie sich vor einem Jahr gekauft hatten, und stopfte ihn mit alten Lumpen fest. Das andere Ende des Schlauchs nahm sie in die Hand, öffnete die Fahrertür des Wagens und schob ihn durch das Fenster, welches sie vorher einen Spalt weit heruntergefahren hatte. Mit der freien Hand ließ sie die Scheibe wieder hochfahren, bis der Schlauch eingeklemmt wurde. Anschließend setzte sie sich auf den Fahrersitz und schloss die Tür.
Zitternd legte sie die Hand an den Schlüssel im Zündschloss und startete den Motor des Wagens. Erika Ballmann lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen. Sie wartete auf die Dämpfe, die ihr Leben beenden sollten. Blind griff Erika in die Pappschachtel neben sich auf dem Beifahrersitz und nahm einen Donut heraus. Mit der Zungenspitze leckte sie genüsslich über die Schokoladenglasur, dann biss sie in das Gebäck. Während sie kaute, schweiften ihre Gedanken zu Klaus, von dem sie seit Wochen nichts mehr gehört hatte. Sie erinnerte sich schmerzhaft an den Tag, als er sie aus heiterem Himmel verlassen hatte. Nicht mehr als eine kurze, hingeschmierte Notiz und ein Kuvert hatte sie auf dem Küchentisch vorgefunden.
Das Geld ist für dich! Adios Klaus In dem Umschlag steckte ein Scheck über 50.000 Euro, die Bezahlung für zwanzig Jahre Ehe. Wieso ihr Mann so viel Geld besaß, war Erika zunächst schleierhaft gewesen. Einige Tage später erfuhr sie von einer Bekannten bei der Sparkasse, dass ihr Mann eine Woche vor seinem Verschwinden ein neues Girokonto eröffnet hatte, auf dem wenige Tage später eine Überweisung von 650000 Euro eingegangen war. Der Absender war die »Westdeutsche Lotterie GmbH & Co«. Ihr Klaus hatte im Lotto gewonnen und wollte mit dem Geld ein neues Leben anfangen. Ohne sie! Und was war ihr geblieben? 50000 Euro, eine schlecht laufende Metzgerei und knapp vierzig Kilo Übergewicht, das sie sich in den letzten beiden Jahrzehnten angefressen hatte. »Ich habe immer gesagt, dass du zu viel Süßigkeiten futterst«, sprach eine wohlbekannte Stimme zu ihr. »Der viele Zucker macht fett, zerstört die Zähne und beschert einem so mancherlei Unheil.« Erika öffnete die Augen, hustete trocken und schaute benommen zur Seite. Neben ihr auf dem Beifahrersitz saß ihr Mann Klaus und grinste sie an. Er sah verändert aus. Statt seiner blutverschmierten Metzgermontur trug er einen weißen Anzug, darunter ein fliederfarbenes Hemd, die obersten Knöpfe geöffnet, sodass eine dickgliedrige goldene Kette zu sehen war. Eine Sonnenbrille im Fliegenaugenstyle verdeckte seine grauen Augen und die buschigen Brauen darüber. Sein dünnes Haar hatte er über die kahle Stelle auf seinem Kopf gekämmt. »Wo kommst du den her?«, fragte Erika verdutzt. »Ich war die ganze Zeit hier.« »Wo sind meine Donuts?« Klaus zuckte mit den Schultern, dabei hörte er nicht auf wie ein Honigkuchenpferd, zu grinsen. »Warum hast du mich verlassen?«, fragte Erika. Die Auspuffdämpfe vernebelten ihre Sicht. Ihr wurde es schwindelig, und das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. »Sieh dich an«, erwiderte Erikas Ehemann, »Dann hast du die Antwort.« Erika runzelte die Stirn. Sie begriff nicht, was er meinte. »Glaubst du wirklich, dass ich den Rest meines Lebens in dieser langweiligen Metzgerei verbringen wollte?«, fuhr er fort, »Wurst, Hackfleisch, Bratwürstchen, blutverschmierte Kittel und nervende Kunden? Das alles für die paar Mäuse, die im Monat überblieben? Nee, nee! Der Lottogewinn war ein Segen für mich, die einmalige Chance von vorne anzufangen.« »Aber …?« »Aber warum ohne dich? Willst du das wissen?« Erika nickte ängstlich. »Kannst du dir das nicht denken?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Mann seufzte. »Na gut, die Kurzform. Für mehr reicht die Zeit nicht. Es war an einem Abend, vor ungefähr drei Jahren«, begann Klaus zu erzählen. »Du warst vor dem Fernseher eingeschlafen, in diesem fürchterlichen rosafarbenen Frotteebademantel. Auf deinem Schoß stand eine leere Schachtel Schoko Crossies, dein Mund war mit Schokolade verschmiert und Speichel lief in einem langen Faden aus deinem Mundwinkel. Du sahst aus wie ein Schwein und genau das warst du auch: ein fettes Schwein! In diesem Augenblick begriff ich, dass ich dich niemals richtig geliebt habe. Mir wurde klar, dass ich von dir weg musste.« Erika schluckte einen dicken Kloß herunter. Ihr Doppelkinn wackelte wie Götterspeise, Tränen liefen über ihre roten Wangen. Traurig schloss sie die Augen für einen Moment. »Das Schwein bist du!«, sagte sie leise. Auf eine Reaktion wartete sie vergeblich. Es fiel ihr schwer die Augen wieder zu öffnen, sie war müde und wollte nur schlafen. Doch es gelang ihr, und als sie zur Seite schaute, entdeckte sie auf dem Beifahrersitz die Schachtel mit den Donuts. Klaus war fort! »Ekel … fettes Schwein«, murmelte sie. Langsam drückte sie ihren Fuß auf die Kupplung, gleichzeitig hob sie ihren bleischweren Arm. Erika legte ihre Hand auf den Schaltknauf und ächzte vor Anstrengung, als sie einen Gang einlegte. Dann nahm sie ihren Fuß von der Kupplung. Ruckartig schoss der Wagen nach vorne. Erika wurde durchgeschüttelt, als der Mercedes vor die Garagenwand krachte und der Motor mit einem Gluckern abwürgte. Alles schwirrte und drehte sich in ihrem Kopf. Das Armaturenbrett schien plötzlich so groß und gewaltig, als wäre es für Riesen entworfen worden. Immer wieder fielen Erikas Augen zu. Im Zeitlupentempo ließ sie ihre Hand vom Schaltknauf rutschen und legte sie auf den Beifahrersitz. Sie fühlte die fettdurchtränkte Verpackung ihrer geliebten Donuts, ertastete das kalte Leder des Sitzes, dann endlich spürte sie die rechteckige Fernbedienung in den Händen, mit der sich das Garagentor öffnen ließ. Blind drückte sie die Knöpfe, das Summen des sich öffnenden Tores klang in ihren Ohren. In einem letzten Akt von Kraftaufwendung öffnete sie die Fahrertür und ließ sich auf den Garagenboden plumpsen. Der Rest war ein schwarzes Loch, das sich stetig vergrößerte und sich wie ein düsteres Leichentuch über ihr schwindendes Bewusstsein legte.
Kapitel 4
Das Wartezimmer war verwaist. Einen Tag vor Sylvester ging niemand mehr zum Arzt, wenn es nicht unbedingt notwendig war.
Roman war das egal! Er kam gerne hier her, denn die Klinik war einer der wenigen Orte, an denen er sich wohlfühlte. Hier traf er Menschen mit den gleichen Problemen, die ihn verstanden und akzeptierten. Sicher gab es auch hier Leute, die ihn von der Seite anstarrten, ihn musterten, wie eine Attraktion auf dem Jahrmarkt. Aber aus irgendeinem Grund tat ihm das in der Klinik nicht so weh,