So drangen wir im Laufe einer Stunde bis in die Gänge unterhalb der sogenannten Schatzkammern vor. Auch hier gab es noch Wachen. Wir kamen zu einem Tunnel, von dessen Existenz wohl nur ganz wenige wussten. Er verlief recht steil nach unten. Wir waren inzwischen so tief, dass ich Furcht hatte, dass die Erdmassen über uns herunterbrechen und uns begraben könnten.
Mama hielt inne und wendete sich der Eskorte zu. „Wenn ihr jemals erzählt, dass ihr hier wart, werden eure Familien sterben!“ So rigoros hatte ich sie nie zuvor erlebt. Für mich war sie immer meine Mama, jetzt war sie die Zarin und zeigte, dass in ihr auch das kämpferische blaue Blut ihrer germanischen Vorfahren pulsierte. Es übernahm in dieser Krisensituation die Regentschaft. Ich musste davon etwas abbekommen haben, gestand ich mir spöttisch ein.
Die Leibwachen zuckten mit keiner Wimper.
Wir kamen nun zu einem Raum, der mit großen Schlössern und einer eisernen Tür verriegelt war. Dort standen erneut zwei bewaffnete Posten.
„Tretet beiseite!“, befahl meine Mutter herrisch und zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche.
„Das dürfen wir nicht!“, beharrte einer der beiden.
„Erschießt sie!“ Die Kosaken senkten die Gewehre, um dem Befehl nachzukommen.
„Nein, wir gehorchen!“, bat der arme Kerl entsetzt mit erschrocken aufgerissenen Augen.
Mama blickte kurz auf unsere Begleiter: „Nehmt ihnen die Waffen, aber verschont sie noch einmal!“
„Widersprich niemals wieder deiner Zarin!“, forderte sie nebenbei.
Der Mann versuchte die Erde zu küssen, die ihre Füße berührt hatten.
„Bitte verzeiht uns!“
Die beiden wurden von unserer Eskorte ihrer Pistolen beraubt. Meine Mutter öffnete den Eingang. Wir traten ein. Alle anderen blieben draußen. Mama schloss sorgsam die Tür hinter uns zu. Was wollten wir hier?
In dem Raum standen vor allem religiöse Utensilien, Ikonen, Leuchter und verstaubte Geschenke von fremden Herrschern aus vergangenen Zeiten. Meine Mutter sah sich um und ging zielstrebig zu einem der Schränke. Sie öffnete diesen, warf die darin enthaltenen Gegenstände achtlos auf den Boden und zog ein geheimes Fach heraus.
„Nur noch zwei! Wo sind die anderen?“ Ihre Stirn kräuselte sich nachdenklich.
„Mama, was ist das?“, fragte ich erschauernd.
Meine Mutter sah mich an.
„Olga, wir werden alle ermordet. Es ist nur eine Frage der Zeit. Rasputin hat sich niemals geirrt. Seine Prophezeiung wird eintreten. Sei bereit! Wenn ich dir dieses Mittel gebe, ist alles verloren. Beiß mit aller Kraft auf diese Kapsel. Sie ist so dünn, dass sie dem Biss nicht standhält.“
Ich verstand gar nichts.
„Mama, du machst mir fürchterliche Angst. Das ist doch alles nur ein böser Traum. Was ist das? Gift?“
„Nein, das Gegenteil davon. Es ist deine einzige Hoffnung auf ein Leben.“
Sie winkte mich ganz dicht heran. Niemand sollte uns hören können. Ihr Mund flüsterte nun in mein Ohr: „Ich sah mit eigenen Augen, dass ein zum Tode Verurteilter, nachdem er erhängt wurde, am nächsten Tag durch diese Medizin erwachte. Man hatte sie ihm zuvor verabreicht. Der Henker musste ihm darauf den Kopf abtrennen und ihn verbrennen, um das Urteil zu vollstrecken.“
„Was ist das für ein Mittel? Was sind das für unglaubliche Geschichten?“
„Sie sind wahr, Olga. Es gibt eben mehr zwischen Himmel und Erde, als wir sehen. Du hast es bei Rasputin und der Heilung des Zarewitsch selbst beobachten können.“
Sie beugte ihren Mund erneut zu meinem Ohr herab und flüsterte so leise, als könnte uns jemand belauschen.
„Es ist das Blut des einzig bekannten russischen Vampirs. Er wurde vor mehreren Hundert Jahren gefangen, hingerichtet und sein Blut aufbewahrt. Da man im Laufe der Zeit immer wieder an der Geschichte zweifelte, testete man es zuweilen an zum Tode verurteilten Verbrechern. Dieses Staatsgeheimnis wurde bis heute bewahrt und von Zar zu Zar weitergegeben. Zuletzt hat man den Rest des verbliebenen Blutes in sieben gläsernen Ampullen versiegelt. Fünf wurden scheinbar schon gestohlen. Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen.“
„Mama, was verlangst du von mir?“
„Wenn ich dir diese gebe, dann ist alles verloren und wir werden sterben. Zögere in diesem Moment nicht. Vertrau mir! Ich will, dass du lebst. Nimm Rache, dein Vater ist zu schwach dazu! Du bist stark und klug!“
Mama war wohl verrückt geworden. Ich zitterte.
„Was wird Gott dazu sagen?“
„Der?“ Mama lachte blasphemisch. „Er wird es schon verstehen! Der Vampir war doch auch ein Teil seiner Welt!“
Diese neuartige Auslegung unseres Glaubens aus dem Mund meiner Mutter war zutiefst ungewöhnlich. Sie legte ihren Finger auf den Mund – als Zeichen, dass ich schweigen sollte. Die zwei kleinen Kapseln steckte Mama in eine eigens mitgebrachte kleine Tasche. Dann öffnete die Zarin von Russland die Tür.
„Sofern ihr irgendjemanden erzählt, dass ich hier war, sterbt ihr!“, ermahnte sie die verängstigten Wächter. Beide hatten mit ihrem Tod gerechnet.
Wir gingen von den Kosaken eskortiert zurück.
Das Geheimnis der Fabergé-Eier
Was sollte ich schon gegen einen Besuch bei dem berühmten Fabergé einwenden? Ich freute mich sogar über diese Abwechslung. Welches Mädchen liebte nicht den Anblick von Juwelen und Gold? Bei Fabergé gab es immer etwas zu bestaunen. Peter Carl Fabergé gehörte fast schon zu unserer Familie. Er war für mich einfach schon immer da gewesen. Unzählige Schmuckstücke hatte er zusammen mit seinen vielen Mitarbeitern in den letzten Jahrzehnten in der Eremitage restauriert. Das war der Louvre Russlands. Dort gab es immer etwas zu tun. Seine Berühmtheit hatte er bereits vor meiner Geburt 1882 bei der Allrussischen Ausstellung durch zahlreiche extravagante und einmalig fantasievolle Schmuckstücke erlangt. Seit dem war allein der Name Fabergé bereits eine Marke. Sein persönliches Auftragsbuch war so voll, dass er auf Jahre ausgebucht war. Sein Geschick war weltweit unvergleichlich. Jeder Monarch in dieser Welt wollte inzwischen unbedingt eines seiner verspielten Meisterwerke ergattern. Daran hatte auch der Krieg nichts geändert. Unsere Familie bevorzugte er natürlich. Denn Peter Carl Fabergé war inzwischen zum Hofjuwelier aufgestiegen und durfte diesen Namen auch als Titel in der Firmenanschrift verwenden. Insofern war es auch nicht verwunderlich, dass Mama mich zum Abholen von zwei kürzlich bestellten Werken in seinem Geschäft einlud.
Wir fuhren mit einem amerikanischen Automobil zu unserem Ziel. Es war ein Geschenk des dortigen Präsidenten und recht bequem. Selbst bei der kurzen Fahrt stellte ich fest, dass sich die Stimmung in der Stadt noch mehr zum Schlechten gewandelt hatte. Das quicklebendige Petrograd wirkte inzwischen bedrückend und bedrohlich auf mich. Nur einige wenige Getreue trauten sich noch, ihre Verbundenheit mit dem Zarenhaus öffentlich auf der Straße zu zeigen. Winkten die Menschen vor einigen Monaten noch unserem mit den russischen Reichswimpeln geschmückten Auto begeistert zu, so ernteten wir heute fast nur noch böse Blicke. Die Zarenfamilie war in Ungnade gefallen. Der Mord an Rasputin schien die Ereignisse nur zu beschleunigen. Seine Mörder waren davongekommen. Papa hatte sich gegenüber den Tätern aus seiner eigenen Familie als zahnlos erwiesen. Mama verzieh ihm das nicht. Zwischen beiden war so etwas wie eine kleine Eiszeit. Trotzdem verließ Mama ihren Gemahl nicht. Sie war eben die russische Zarin, auch wenn sie immer stärker ihre deutschen Wurzeln betonte. Sicher wollte sie uns Kindern damit ein wenig Hoffnung spenden und andeuten, dass es auch eine Zukunft für uns außerhalb Russlands gab. Aber es machte uns nur um so mehr Furcht.
Unter den Gaffern