„Was kann ich tun?“
Er wusste, dass jede andere Frage in diesem Moment unpassend wäre. Papa war äußerst klug und weitsichtig. Mama war mehr deutsch im Charakter und hatte seit der Begegnung mit Rasputin einen starken Hang zum Mystizismus. Das verbindet Deutsche und Russen. Die letzten Jahren hatten erwiesen, dass dieser sogar dem rationalen Handeln oftmals überlegen war.
Ohne Mutters Glauben an den Wunderheiler Rasputin wäre Ljoschka längst gestorben. Mein geliebter Bruder litt an der in vielen Adelshäusern verbreiteten Bluterkrankheit. Als die Ärzte ihn aufgaben und die Popen die letzte Salbung empfahlen, heilte Rasputin ihn vor unseren Augen. Gegen den Widerstand von Papa, seinen Beratern, den Ärzten und sogar mir hatte Mama allein dessen Wunderkräften vertraut. Sie hatte Recht gehabt und dadurch dem Zarewitsch wiederholt das Leben gerettet. Deswegen hassten die Ärzte und auch die höfische Kurie den einfachen Wunderheiler. Er führte ihnen und allen aufgeklärten Zweiflern ihre Unfähigkeit sowie Dummheit vor Augen. Nicht Rasputin, den wir auch Vater Grigorij nannten, irrte, sondern sie. Wieso wählte Gott einen versoffenen Popen aus dem Ural, um seine Wunder zu vollbringen? Das verstand niemand, wozu auch.
Es gab in Russland keinen Mann wie ihn. Gott hatte dem sibirischen Priester eine ganz besondere Fähigkeit geschenkt, aber leider auch ein abscheuliches Benehmen. Dieses stellte er jedoch bei Mama so weit wie möglich zurück. In ihrer Gegenwart benahm Rasputin sich besser. So wie ein Vater, der sich mit ganzem Einsatz um seine Tochter und deren Sorgen kümmert. Sie hatte das beste Bild von ihm, denn er war schließlich der Retter des Thronfolgers, ihres einzigen Sohnes. Alle anderen hatten versagt. Das hatte Rasputin Einfluss gegeben, den andere ihm neideten.
Ganz zaghaft hob Mama ihren Kopf. Unendlich langsam kehrte ihr Blick aus einer anderen Welt in diese zurück und färbte sich sofort mit grenzenlosem Hass.
„Töte diese widerlichen Bestien!“, brach es aus ihr heraus.
Papa versteinerte und auch wir waren entsetzt. War das unsere warmherzige Mutter? Mama hatte nie Todesurteile akzeptiert. Manch ruchloser Bösewicht verdankte ihr eine Begnadigung. Stets war sie selbst für die Abschaffung solcher Strafen in Russland eingetreten. Nun forderte sie diese?
Wir alle wussten, wen die Zürnende meinte. Es ging um unsere eigenen Verwandten und deren Freunde, um das sakrosankte Blut von Romanows.
Unser Vater rang um Fassung. Er sprach niemals unbedacht. Wie ein Schriftsteller und Philosoph wählte er seine Worte genau, wog sie ab.
„Wage nicht, diese sündigen Bestien zu verteidigen!“, schrie sie zornerfüllt.
„Dein Lieblingsneffe Großfürst Dimitrij und sein Liebhaber Fürst Jussupow haben ihn ermordet. Sie waren es.“ Sie spuckte sogar aus. „Dr. Lasawert hatte für sie Rattengift in Rasputins Wein gemischt. Nur geschwitzt hat unser Vater Grigorij davon. So leicht bringt man einen von Gott Geliebten nicht um.“
Für einen kurzen Moment hielt sie inne und verdrehte die Augen nach oben, so als sähe sie direkt zum heiligen Vater. „Dann hat Purischkewitsch ihn an den Hoden gefoltert und Jussupow, der widerliche schwule Bückling deines Neffen, hat ihn kaltblütig erschossen. Doch Gott ließ unseren Beschützer nicht sterben.“ Erneut drehte sie ihre geröteten Augen gen Himmel, um die Heiligkeit Rasputins zu untermalen.
„Gerade wollte er fliehen, da kamen die Monster zurück. Dimitrij, dieser böswillige Hund, schoss abermals auf den Geschundenen und schlug ihm mit seinem Stock sogar ein Auge aus.“
Sie machte eine ahnungsvolle Pause und sah Vater nun fest in die Augen. „Das alles geschah in Jussupows Palais durch die Hand eines Romanow! Selbst als die Bestien Vater Grigorij gefesselt und verstümmelt in die Newa warfen, versuchte er noch, sich zu befreien.“
Niemand unterbrach sie, als sie abermals in ihrer Anklage einhielt. Jedem Wort durch Langsamkeit Gewicht verleihend, schloss sie die lange Rede ab: „Sie wussten, dass der Zarewitsch nur durch seinen Segen überleben kann!“
Papa sagte nichts. Es waren seine nächsten Verwandten, die Rasputin getötet hatten. Es waren Romanows, um die es hier ging. Das machte selbst ihn sprachlos, da Mama zu Recht ihren Tod forderte.
Nicht einmal die Polizei hatte in Russland Zutritt zu den Häusern von Familienmitgliedern des Zaren. Obwohl Nachbarn diese über die Schüsse im Palast alarmierte, mussten die gerufenen Beamten den Mord an Rasputin untätig geschehen lassen und durfte sich nicht einmischen.
„Er war ein Priester und von Gott gesandt!“, stieß meine Mutter nochmals keuchend hervor.
„Sie wollen uns vernichten und den Thronfolger töten! Seine Prophezeiung wird nun eintreten“, erklärte Mama mit von Paranoia geweiteten Augen.
„Welche Prophezeiung?“, wagte Tatjana furchtsam zu fragen.
„Rasputin hat einen Brief hinterlassen“, klärte ich flüsternd meiner Schwester auf.
„Wenn er durch die Hand eines Mitglieds unserer Familie stirbt, werden wenige Monate später das Zarenreich und die Romanows untergehen. Vater Grigorij hat den Mord an ihm vorausgesagt.“
Daraufhin hielt Tatjana verblüfft die Hände vor den Mund.
„Nun bin ich verloren!“, stöhnte Vater, worauf unsere Blicke noch angstvoller wurden. Die Worte waren ihm entglitten und eigentlich für niemanden gedacht.
Er versuchte hilflos die Hand unserer Mutter zu nehmen, diese stieß seine aber erbost weg.
„Rette wenigstens deine Kinder, nicht mich! Rette Ljoschka, deinen Sohn, den Zarewitsch! Töte diese Brut aus dem Hause Romanow! Töte alle diese Verräter, verschone niemanden!“ Mama war außer Rand und Band.
„Warum haben unsere Cousins das getan?“, fragte Anastasija. „Vater Grigorij war doch unser Beschützer, zudem ein einfacher Mönch.“
„Werden wir wirklich alle sterben?“, flüsterte mein kleiner Bruder. Er war gerade erst zwölf Jahre alt.
„Das werde ich nicht zulassen!“, erwiderte Papa und nahm alle Kraft zusammen.
„Ich beschütze euch, ich bin noch immer der Zar!“
Mama gab ein irrsinniges Kichern von sich. Ich bekam Gänsehaut.
„Sie arbeiten bereits an deinem Sturz! Sie nehmen dich nicht ernst! Bist du noch von dieser Welt?“, spottete sie.
Unserem Vater entglitt die Beherrschung über seine Gesichtszüge. Tiefste Sorgen spiegelten sich in ihnen.
Mama forderte erneut: „Töte sie sofort, nur so kannst du uns beschützen! Wenn du mich und deine Kinder wirklich liebst, dann zerfetze sie! Sei ein russischer Wolf. Wir wollen ohnehin nicht länger Romanows sein. Der Name ist für immer besudelt. Lasst uns die Sachen packen und aus dem Land fliehen, solange überhaupt noch jemand auf dich hört. Sie hassen uns. Ich verabscheue dieses bösartige Volk!“
„Wer hasst uns?“, fragte der kleine Zarewitsch verängstigt. „Ich denke, alle lieben mich?“
Mama lachte abermals ihr neues hysterisches Lachen. Sie war eine wütende Hyäne, die ihre Jungen verteidigte. Papa rannen nun Tränen aus den Augen. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Die Räson verbot das, so schwer die Situation auch war. Er war immer der Fels gewesen, an dem sich alle festhalten konnten.
Wir alle fühlten instinktiv, dass Mama Recht hatte. So gern ich Papa glauben wollte. Die eisige Vorahnung unseres Todes zog durch unsere Gemächer und vertrieb die letzte Illusion von Beständigkeit vollständig. Wie Schmetterlinge hatten wir das schöne Licht eines Sonnentages genossen, doch die Nacht und unser Ende rückten mit jedem Augenblick näher. Das wurde mir bitter klar.
Papa kniete sich auf den Boden und versuchte erneut die Hand seiner geliebten Frau zu nehmen. Diese gewährte ihm diese Intimität nicht mehr.
„Wenn dir das Leben unserer Familie etwas wert ist, wenn dir der