Die Leiden des Schwarzen Peters. Till Angersbrecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Till Angersbrecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738088946
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das Verhalten der Gottesfrau eine viel einfachere Erklärung gibt. Es ist mir nämlich aufgefallen, dass sie von ihrem Platz immer sinnend auf einen Punkt irgendwo zwischen den Wipfeln der Kastanien schaut - und das tut sie so still und mit einem so seligen Lächeln, als würde sie dort oben die Heerscharen der Engel oder andere himmlische Wesen erblicken.

      Ihr versonnenes Lächeln hat mich derart entzückt, dass ich an einem frühen Nachmittag, als noch keine Gäste das Odysseus besuchten, probeweise selbst an Tisch drei den Platz Nummer zwölf einnahm. Und siehe da, ich begriff auf der Stelle, warum die Frau Pastor gerade an diesem Platz Momente des Glücks durchlebt: Durch die lichte Öffnung zwischen den Kronen zweier Kastanien ragt nämlich die im Sonnenschein silbern gleißende Spitze des Kirchturms hervor, gewissermaßen der erhobene Zeigefinger des Herrn. So gerät ihr selbst an diesem gottfernen Ort, wo die Hure Pier das lautstarke Sagen hat, nie die Präsenz des Höchsten aus dem Blick.

      Um noch ein weiteres Wörtchen über die Frau Pastor hier einzuflechten: Ich gönne der lieben, aber leider etwas vergrämten Frau diese Momente des Glücks - und halte deswegen auch immer den besagten Platz für sie frei -, weil ihr schmales Gesicht, wenn sie nicht gerade auf die Erscheinung über den Bäumen blickt, sondern ihre Aufmerksamkeit den Nachbarn zuwendet, stets einen so tiefernsten Eindruck macht, meist in Falten gelegt ist und auf mich überhaupt sorgenvoll wirkt, ein Eindruck, den ich nun wirklich gar nicht verstehe, da doch die enge Verbindung zu ihrem unsichtbaren Herrn der Pastorin eine größere Selbstgewissheit und Unbeschwertheit verleihen müsste als allen anderen Menschen, zumindest als allen anderen Goldenbergern, die dem Himmel weit weniger nahe sind - von mir will ich erst gar nicht reden, da ich die Gegenwart meines Schutzgeistes Loso in der neuen Umgebung bis heute vermisse und daher die ganze Zeit über spirituell völlig vereinsamt bin.

      Vielleicht ist es gerade meine Verlassenheit, die in mir ein besonderes Interesse an der Torbrück erweckt, denn diese ist ja sozusagen der verlängerte Arm der hier herrschenden Geister. Nun, da ich in Goldenberg ansässig bin, bietet sich mir die Gelegenheit, euch mit einem Gottesboten bekannt zu machen, noch dazu mit einer Frau, die ja für den Umgang mit den Geistern besonders empfänglich ist. Denn ihr wollt natürlich gleich von mir wissen, welche Spuren der intime Verkehr mit den himmlischen Mächten in einer Stadt wie Goldenberg in die Seele von Menschen gräbt, die ihnen besonders nahe stehen.

      Also, wenn meine bisherigen Beobachtungen mich nicht trügen, dann glaube ich jetzt schon behaupten zu dürfen, dass die Frau Pastor Frieda Torbrück unter dem intimen Verkehr eher gelitten hat, denn während der hier schon verflossenen Zeit meines Aufenthalts in der Stadt habe ich sie kein einziges Mal lachen sehen, ja selbst das Lächeln scheint ihr schwerzufallen - jedenfalls solange sie nicht gerade die Erscheinung im Auge hat, ich meine die Kirchturmspitze, die von oben durch die Krone der beiden Kastanienbäume zu ihr herabblinkt.

      Welche Gründe ihr tiefer Ernst auch haben mag, unbestreitbar ist meine Beobachtung, dass die Pastorin niemals von jener lauten Pierfröhlichkeit überwältigt wird, welche selbst die seriösesten Eingeborenen Goldenbergs hin und wieder ergreift, zumal an einem etwas weniger kalten und sogar sonnigen Märztag wie diesem, wo die Natur selbst ihren Ernst ablegt: Man braucht doch nur auf den Brunnen unter der Laube zu blicken, wo aus dem weit geöffneten Maul eines marmornen Fisches glitzernde Wasserfontänen in allen Farben des Regenbogens in die Höhe schießen. Der Himmel scheint zu einem schüchternen Lächeln aufgelegt, nur die Gottesfrau Torbrück bleibt so ernst, wie sie es immer ist.

      Bremme, wendet sie sich gerade dem Bürgermeister zu, Sie wissen so gut wie ich, dass wir uns auf ganz dünnem Eis bewegen; wenn die Stadt nichts unternimmt, dann ist nicht nur der Friedhof betroffen, wo die Gräber am westlichen Saum schon in die Tiefe sinken, das können wir noch verkraften, aber irgendwann wird der Boden auch unsere Kirche verschlingen. Können Sie das vor den Bürgern verantworten? Ich frage Sie, wie werden sie am jüngsten Gericht vor unserem Herrn dastehen?

      Ich habe ihre Worte ganz deutlich vernommen, obwohl die Torbrück sehr leise sprach, denn offenbar wollte sie nicht, dass man sie an den Nachbartischen versteht. Wie immer, wenn ich die Gottesfrau höre, spricht sie in einem anklagenden, leidendem Ton - so redet sie auch von der Kanzel. Doch habe ich einen Unterschied zweifelsfrei feststellen können: Wenn sie in der Kirche drei Meter über einer ihr ergriffen lauschenden Menge schwebt, dann mischt sich in den klagend-anklagenden Ton noch etwas Festes, Unerschütterliches, ein Strang aus schwingendem Metall möchte ich es nennen, der schwingt dann wie ein tiefer Gong in ihrer Stimme mit, als würde sich, sobald ihre Rede aus dieser Höhe kommt, eine innere Verwandlung, eine Art Verklärung in ihr vollziehen. Sie steht dann auf gleicher Höhe mit dem größten der Kirchengeister, ich meine mit der hölzernen Figur, die sie den Gekreuzigten nennen und der, für alle sichtbar, den weiten Raum des Kirchenschiffs gegenüber dem Eingang als Blickfang und Botschaft begrenzt. Ich habe es selbst gehört und mit eigenen Augen gesehen: In diesen Momenten der Verwandlung, wenn sie im Talar aus der Höhe zu den Gläubigen spricht, dann gleicht sie den Engeln auf den Bildern rechts und links an den hohen Wänden, nur dass sie nicht in die Posaune bläst, dann ist sie nicht länger die unscheinbare Privatfrau Frieda Torbrück, sondern der Geist scheint in sie zu fahren und durch ihren Mund zu reden. Dennoch muss ich der Wahrheit gemäß bemerken, dass sie selbst dann nicht aufheiternd wirkt, und ich glaube auch, jetzt schon zu wissen, warum selbst dann kein Lächeln auf ihrem Gesicht erscheint. Der Geist, den sie verehrt, hängt nämlich an einem Kreuz, festgenagelt an Händen und Füßen, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. Zu ihm schaut sie immer wieder hinüber; ich meine, es ist ihr ja schon von weitem anzusehen, wie sehr sie unter diesem Anblick fortdauernd leidet.

      Wie ich die arme Torbrück bedaure! Wäre sie nicht in Goldenberg aufgewachsen, sondern in meiner Heimat, dann würde sie tanzen und lachen. Bei uns sind die Menschen selbst dann noch zum Tanzen aufgelegt, wenn sie traurig und unglücklich sind. Bei uns hätte die Torbrück einen fröhlichen, einen lustigen, schelmischen und zu Tollheiten aufgelegten Gott kennengelernt, und sie hätte gewiss ebenso zu tanzen begonnen, denn wie sagte Zaragomb, unser vor allen anderen berühmter Medizinmann: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere.“

      Die arme Frau Torbrück versteht nicht zu tanzen, sie wird vom Geist der Schwere verfolgt, der sie immer nur das Leid und die Qual sehen lässt. Nein, die Goldenberger haben es wahrhaftig nicht leicht - so viel habe ich schon begriffen.

      Eine käsefarbene Runde

      Ich habe es, so glaube ich, recht schnell begriffen, weil ich meine Mission, euren Auftrag, sehr ernst nehme und ihn in aller Gewissenhaftigkeit erfülle: Keine Gelegenheit lasse ich mir entgehen, um tiefer und tiefer in die Psyche der Eingeborenen vorzudringen. Deshalb musste ich mich natürlich auch in das Haus vorwagen, dessen glitzernde Spitze bis zu Tisch drei, Platz zwölf zwischen den Kronen zweier Kastanien wie ein erhobener Zeigefinger zum Odysseus herunterblinkt. Dieses Haus ist die meiste Zeit, ja eigentlich die ganze Woche mit Ausnahme des Sonntags und der Feiertage, nichts anderes als eine mächtige, von roten Backsteinwänden umschlossene Leere, die freilich von oben durch ein spitzes Dach vor Regen und Unwetter bewahrt wird. Merkwürdigerweise tritt diese Leere in Gestalt eines weit über das Land hinausschauenden Turms überaus selbstbewusst in Erscheinung, was zusätzlich noch dadurch bekräftigt wird, dass sie sich an besagten Sonn- und Feiertagen mit dröhnendem Glockengetöse bemerkbar macht. So weit mir inzwischen bekannt, wird der gewaltige Hohlraum gewöhnlich nur von Unsichtbaren bewohnt, die dort aber nur selten verweilen, ich meine, weil es ja viele derartige leerstehende Bauten in ihrem Lande gibt, wo die Unsichtbaren nach den Regeln der Logik doch keinesfalls zur gleichen Zeit präsent sein können! Deshalb wird das steinerne Gehäuse im Grunde nur einmal pro Woche von irdischen Wesen genutzt, nämlich den Goldenbergern, die dann der klagend-anklagenden Stimme der Frau Pastor lauschen.

      Mir fällt es immer noch schwer zu begreifen, warum ein Haus, das allenfalls einmal in der Woche - und auch dann nur für wenige Stunden - bewohnt wird, eine so gewaltige Größe aufweisen muss, während die Wohnstätten der Stadtbewohner im Vergleich dazu geradezu winzig sind? Geht es vielleicht nur darum, der Frau Pastor einen Ort für ihre wundersame Verwandlung zu bieten? Diese selbst, ich meine, die Verwandlung, ist ganz unbestreitbar