Die Leiden des Schwarzen Peters. Till Angersbrecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Till Angersbrecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738088946
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Eisenrot

      März, 6 Monate vor Erbauung des Gump;

      Seelentemperatur: witternder Leopard;

      Geisterkontakt: stumm;

      Witterung: kalt in die Knochen ziehend.

      Wäre in Goldenberg ein Meteorit vom Himmel gefallen, laut zischend und mit der Schleppe einer lodernden Feuersbrunst, hätten die Eingeborenen wohl kaum stärker in Erregung geraten können als durch mein plötzliches Erscheinen. So einen wie mich hatten sie in ihrer Stadt noch nie gesehen, ein Wesen zwar durchaus ähnlich gebaut wie sie selbst, mit zwei schlanken Armen, zwei kräftigen Beinen, einem Rumpf in den üblichen Proportionen und einem Kopf, der nun allerdings einen radikalen Unterschied demonstrierte und es ihnen verbot, mich mit einem echten Goldenberger zu verwechseln. Meine Haut ist schwarz, nicht pechschwarz - darauf möchte ich mit allem Nachdruck bestehen -, nein, schokoladenfarben, was doch eine viel distinguiertere Tönung ist und unter den Einheimischen, wie mir später zu Ohren kam, zunächst Zweifel erweckte, ob meine Farbe wirklich vollkommen waschecht sei oder nicht mit der Zeit verblassen würde, ich meine, unter dem Einfluss ihrer sehr ungnädigen, in meinen Augen sogar unanständigen Witterung, wo peitschender Regen und grimmiger Sturm keine Seltenheit sind. Dann würde ich, so ihre Vermutung, ihnen mit jedem Jahr etwas ähnlicher werden.

      Hohes Komitee, ehrwürdiger Ältestenrat, ich möchte gleich zu Beginn meines Berichtes betonen, dass mich die Goldenberger mit vorzüglicher Freundlichkeit empfangen und bei sich aufgenommen haben. Gleich am zweiten Tag nach meiner Ankunft luden mich die führenden Vertreter der Stadt, Bürgermeister Bremme, die Frau Pastor Frieda Torbrück, der Apotheker Julius und wie sie alle heißen, ins Odysseus am Rande des Schlossparks ein – nein, nicht ins Schloss selbst, der Herr Baron von Kneek lässt sich nicht überrumpeln. Aber das Odysseus ist in Goldenberg ja auch eine hervorragende Adresse, dort kommen die Honoratioren, an Feiertagen auch die einfachen Bürger, nach der Arbeit zusammen; dort reden, spaßen, lachen, streiten und „philosophieren“ sie – so nennen sie es jedenfalls, wobei ich mir aber bis heute über den Sinn dieses seltsamen Wortes nicht recht im Klaren bin. Ich mutmaße, dass ihr Philosophieren mit diesem goldglänzenden Getränk zusammenhängt, das sie im Odysseus in großen Mengen genießen: Erst dann beginnen sie mit dem „Philosophieren“.

      Von Natur aus sind die Goldenberger übrigens so neugierig wie alle anderen Menschen - sehr neugierig sogar, was ich aus eigener Erfahrung bezeugen kann. Ich will nicht sagen, dass sie den Meteoriten, der da ohne Vorwarnung in ihre Stadt und ihr wohl behütetes Leben platzte, mit offenen Mäulern und aufgerissenen Augen umringt, bestaunt und den Körper des Fremden, meinen Körper, betastet hätten. Nein, so weit gingen sie nicht, sie wissen sich zu benehmen. Als ich in Begleitung des Bürgermeisters – ich sagte schon Bremme, Gustav Bremme - durch das Stadttor und anschließend durch die Gasse ihrer zu beiden Seiten hochaufschießenden Häuser ging - wie unheimliche Riesenschachteln aus Stein erscheinen mir ihre Behausungen - kam mir der Ort im ersten Moment wie eine Geisterstadt vor, so tot und genauso verlassen. Da gab es nur diese Handvoll Leute, die zu meiner Begrüßung erschienen waren.

      Wozu stehen sie hier, ging es mir durch den Kopf, all diese mächtigen, quaderförmigen Schachteln, wenn alles doch unbewohnt ist und den trostlosen Eindruck vollkommener Leere macht? Aber nein, hoher Rat, da habe ich mich geirrt. Während ich noch mit dieser ersten Ernüchterung kämpfte und meine Augen ziellos an den Häuserfassaden in die Höhe schweiften, bemerkte ich auf einmal, dass überall hinter den Fenstern oder auch zwischen den Gardinen die Köpfe von Frauen, Kindern, Greisen und Männern lugten, um einen Blick auf mich, den schwarzen Fremden, zu werfen; ich bemerkte sie allerdings nur einen kurzen flüchtigen Augenblick, denn sobald die Köpfe zwischen den Gardinen bemerkten, dass ich ihre neugierigen Blicke erspähte, zuckten sie augenblicklich zurück, als hätte ich sie bei einer unanständigen Tat ertappt.

      Wie sensibel diese Menschen doch sind!, ging es mir durch den Kopf. Offenbar ist ihnen peinlich und gilt vielleicht nicht einmal als schicklich, der eigenen Neugier die Zügel schießen zu lassen, obwohl ich sie dafür doch gewiss nicht verdammen würde!

      Aus Forschungszwecken durfte ich es natürlich nicht unterlassen, diese meine Vermutung sogleich experimentell zu überprüfen. Ich richtete meinen Blick also eine Zeitlang stur nach vorn auf das Straßenende, um ihn dann unerwartet und blitzschnell in die Höhe zu den Fenstern hochschnellen zu lassen – und, siehe da, es geschah genau, was ich erwartet hatte. Dutzende von Köpfen zuckten alle zur gleichen Zeit zwischen den Vorhängen in den Raum zurück, nur unter den Greisen – und von denen scheint es in Goldenberg nicht wenige zu geben – waren manche durch das Alter so verlangsamt in ihrer Beweglichkeit, dass sie wie verlorene Gespenster zwischen den Vorhängen sozusagen erstarrten, mich aber unmittelbar danach mit einem verlegenen Lächeln gleichsam um Verzeihung für ihr schlechtes Benehmen baten.

      Während das kleine Begrüßungskommando mich, den frisch eingetroffenen neuen Bürger von Goldenberg, durch das Stadttor auf die Hauptstraße geleitet, redet der Bürgermeister mit nicht endendem Wortschwall auf mich ein: Welch große Freude es für die Menschen von Goldenberg und für ihn ganz persönlich sei, einen so außerordentlichen Gast wie mich in den Mauern der Stadt zu begrüßen, hier auf dem vertrauten Terrain seiner Heimat – dieses Glücksgefühl sei unbeschreiblich und eigentlich gar nicht in Worte zu fassen. Er, der Bürgermeister, dürfe sich aber zu diesem Gefühl im Namen aller Bürger in voller Offen- und Ehrlichkeit bekennen. Zum allerersten Mal biete sich der Stadt die Gelegenheit, einen so besonderen, im besten Sinne des Wortes exotischen Vertreter der menschlichen Gattung im eigenen Haus zu empfangen. In ihm als dem gewählten Repräsentanten dieser Stadt erwecke die Aussicht, künftig mit einem so außerordentlichen Exemplar des Homo sapiens über jedes Problem von Mensch zu Mensch reden zu können, schon jetzt die größten Erwartungen.

      Auf diese bombastische Art, die mir gleichwohl zu Herzen ging, denn die gute Absicht war ja doch unverkennbar, begleitete mich der Mann in die Stadt.

      Er steigerte seine Rede schließlich zu einer tönenden Tirade:

      Sind wir uns nicht im Grunde völlig gleich, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion und so weiter und so fort?, ruft er mir zu, obwohl ich doch nur zwei Schritte von ihm entfernt bin. Sind wir nicht im Hinblick auf unsere Gene zu beinahe hundert Prozent verwandt? Haben wir nicht sämtliche Vorurteile längst ausgeräumt und vergessen, die in grauer und trüber Vergangenheit sicher auch einmal bei uns in Goldenberg existierten?

      Der Bürgermeister hat sich so sehr in Eifer geredet, dass auf seiner Stirn eine Vielzahl kleiner Schweißtröpfchen schimmern – ein Wunder, denn die Luft unter dem unwirtlich grauen Himmel ist doch geradezu kalt und richtig zugig. Während er mit lauter Stimme von den glücklich überwundenen Vorurteilen schwärmte, hielt er meinen Arm mit seiner rechten Pranke gepackt, was sicher gut gemeint, aber dennoch wenig angenehm war, denn die Arme des Mannes sind stark wie die Beine eines Stiers, und seine Hände scheinen Schraubstöcke zu sein. Beinahe hätte ich mein Gesicht vor Schmerz verzogen.

      Glücklicherweise ließ er nach einiger Zeit wieder locker, sonst hätten die Bürger von Goldenberg möglicherweise bemerkt, dass auch ich von Vorurteilen keineswegs frei bin, denn, um ehrlich zu sein, schreckte mich der Anblick dieses Mannes doch einigermaßen ab, ja, erfüllte mich sogar mit Beklemmung. Als er mich vor dem Stadttor empfing und zur Begrüßung in seine tatzenstarken Arme schloss, zuckte ich im ersten Moment zusammen wie vor einem kannibalischen Überfall, denn der Schädel des Herrn Bürgermeisters – so muss ich es wahrheitsgemäß protokollieren - ist überaus seltsam geformt: Er gleicht nämlich einer in Goldenberg äußerst beliebten Frucht, die sie Kartoffel nennen, aber er gleicht ihr in einem Zustand unfertiger Bearbeitung, wenn sie also erst halb geschält ist, denn neben einigen käsebleichen, also vergleichsweise hellen Stellen, weist der Kopf des Stadtoberen auch dunkle bis schwarze Flecken auf, so die behaarte Schädeldecke und den ebenfalls grauschwarzen Bart, Stellen, welche sozusagen die noch unbearbeiteten Teile der Erdfrucht repräsentieren.

      In dem Moment, als sich dieses Kartoffelgesicht mit seinen mächtigen Kiefern zu mir hinunterbeugte, erfasste mich panischer Schrecken, denn ich weiß ja: Die Lust am Verspeisen anderer