Das Klinikum. Emanuel Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emanuel Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009224
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hatte er einen Radiosender gefunden, der etwas Besseres spielte, als einen monotonen, unendlichen Mix aus modernem Pop-Zeugs, bei dem ein Lied fließend ins nächste überging. Und bei so einem Kram sollte man am Steuer wach bleiben.

      Wieder stutzte er. Die Lichter des fremden Wagens kamen näher und der Eindruck verstärkte sich, dass es sich hier um einen Geisterfahrer handelte.

      Na wenigstens war die Autobahn leer. Er würde feststellen, auf welcher Spur der fuhr, auf eine andere Fahrspur ausweichen und danach gleich sein Handy zücken, um die Polizei zu verständigen.

      Immer diese Geisterfahrer, meistens Rentner, Selbstmörder oder zugedröhnte Drogensüchtige! Sanft trat er auf die Bremse und verringerte die Geschwindigkeit. Das entgegenkommende Auto schien auf der rechten Seite zu fahren, von ihm aus gesehen. Also wechselte er mit dem Honda auf die mittlere Fahrspur.

      Die näherkommenden Scheinwerfer pendelten ebenfalls in die Mitte. Jetzt wurde es langsam haarig. Kay lenkte seinen Wagen auf die linke Autobahnspur, doch auch hier zog das Scheinwerferpaar mit.

      »Das gibt’s nicht!«, murmelte Kay, mit einem Mal hellwach. Gleich hatte das Auto ihn erreicht!

      In einem raschen Manöver riss er das Lenkrad herum. Der Honda schoss zur Seite über die mittlere Spur auf die rechte.

      »Ha, da mach was draus, du Penner!« grinste er. »Wart nur, wenn die Bullen dich erwischen!«

      Das Grinsen erlosch, als die zwei Lichter, bedrohlich nah jetzt, das Fahrmanöver imitierten, wie ein Spiegelbild, das sich verspätet hatte. Wenige Meter vor der Motorhaube tauchte das entgegenkommende Fahrzeug auf seiner Fahrspur auf.

      »Oh Gott!« Kay schloss die Augen und trat panisch auf die Bremse. Ein metallisches Krachen hallte durch die kühle Nachtluft.

      Als er die Augen wieder öffnete, entdeckte er ringsherum Massen von blinkenden Lichtern. Und Stimmen. Viele Stimmen. Kay schnappte ein paar Worte auf, es gelang ihm jedoch nicht, ihnen in seinem Gehirn eine Bedeutung zu entlocken.

      »... Hubschrauber!«

      »Wohin denn?«

      »... Klinikum Maiwald ...«

      »... gute Idee ...«

      »... transportfähig ...«

      »... ausgleichen, ein Beutel HES, aber dalli!«

      Eine harte Unterlage drückte gegen seine Wirbelsäule. Als er versuchte, den Kopf zu heben, tauchte über ihm ein Gesicht auf. »Alles in Ordnung! Wir fliegen Sie sofort ins Krankenhaus! Sie hatten einen Unfall! Keine Angst, Sie befinden sich nicht mehr im Auto! Bitte liegen Sie still!«

      Die Anweisung erschien Kay überflüssig. Ihm gelang es ja nicht einmal, den Schädel anzuheben, geschweige denn andere Gliedmaßen.

      Der Untergrund, auf dem er lag, schaukelte ein wenig. Aus der Ferne nahm er ein stetes Klopfen wahr, welches lauter wurde. Es klang fast wie ein ...

      »Hubschrauber ist da!« Die Stimme war direkt neben ihm. Als Kay versuchte, den Kopf in die Richtung zu drehen, wurde ihm schwarz vor Augen. Er hörte noch ein paar letzte Satzfetzen.

      »... Kreislaufzusammenbruch ...«

      »... Blut ...«

      »... Kammerflimmern!«

      Kapitel 1

      Lukas saß gelangweilt am Notaufnahmetresen. Sein zweiter Tag als Zivildienstleistender im Klinikum Maiwald neigte sich dem Ende zu. An diesem Samstagabend herrschte nicht viel Betrieb. Kaum eine Handvoll Patienten in den Behandlungszimmern und im Wartebereich saß nur ein alter Mann, der andauernd auf die Uhr schaute. Darum musste er am Aufnahmetresen hocken. Die Schwester, die hier normalerweise arbeitete, war kurz was essen gegangen und er sollte so lange die Stellung halten. Allerdings gab es nichts zu halten. Zum wiederholten Male prüfte er die Position der Uhrzeiger. 21 Uhr, in einer Stunde hatte er Feierabend. Während er ein Gähnen unterdrückte, wünschte er sich, er hätte etwas zu lesen da.

      Lukas war 19 und hatte vor 2 Monaten erst die Schule beendet. Wie es beruflich weitergehen sollte, hatte er noch nicht entschieden. Daher die Überlegung, zunächst den lästigen Zivildienst zu absolvieren. Womöglich lernte er ja ein interessantes Arbeitsumfeld kennen.

      Das einzig Interessante im Moment war jedoch nur der große Zeiger der Wanduhr gegenüber, der wieder eine Minute näher an den Feierabend rückte.

      Da saß er nun gelangweilt: Eine magere, unscheinbare Gestalt mit wild aussehenden, schwarzen Haaren. Was er auch anstellte, sie wirkten immer ungekämmt, ein Umstand, den die leitende Notaufnahmeschwester am ersten Tag missbilligend zur Kenntnis genommen hatte.

      Er war fast am Einnicken, als ein älteres Ehepaar vor dem Tresen erschien. Lukas sah erschrocken auf.

      »Äh ... Guten Abend. Ja bitte?«

      Die Frau – er schätzte sie auf Mitte 60 – sah sehr dürr aus und hatte den Mund zu einer verkniffenen Linie verzogen. Ihr Mann war nicht viel größer, jedoch ziemlich dick. Unter einer Halbglatze huschten ängstliche Augen umher. Der Zivi fühlte sich an seine Großeltern erinnert.

      Der Alte setzte an, etwas zu sagen, doch die Ehefrau kam ihm zuvor und riss ihm die Hand nach oben. »Schauen Sie!« Der Körperteil schien angeschwollen und dunkelrot. Das sah ungesund aus.

      Lukas schaute irritiert. »Äh ... was haben Sie denn da gemacht?«

      Die Frau nahm ihrem Partner erneut das Wort aus dem Mund, als dieser antworten wollte. »Das ist seit 5 Tagen so. Und bis jetzt wurde es immer schlimmer!«

      »... tut auch weh ...«, nuschelte der Mann.

      Der Zivi verkniff sich die Frage, warum sie erst Samstagabend in die Notaufnahme gingen. Wenn er die Beschwerden schon so lange hatte, wäre das ein Fall für den Hausarzt gewesen. Stattdessen meinte er: »Dann bräuchte ich bitte die Chipkarte.«

      Die Frau kramte in ihrer Handtasche. Lukas sah gelangweilt zu, während die ängstlichen Augen des Mannes hin und her huschten.

      »Irgendwo muss sie doch sein ...« Sie schien vergebens zu wühlen.

      Als der Zivi gerade einen verstohlenen Blick auf die Uhr werfen wollte, schreckte ihn das Klingeln des Telefons auf. Hektisch griff er nach dem Hörer. »Klinikum Maiwald, Not ...« Er hielt inne, als er bemerkte, dass es weiter klingelte. Suchend schaute er sich um und entdeckte den Ursprung. Das Notfalltelefon. Ausgerechnet jetzt! Die Schwester hatte ihm erklärt, dass nur Notärzte die Nummer besaßen und dort nur anriefen, um ernste Sachen anzukündigen.

      »Da ist sie ja!« Die Frau zog die Chipkarte ihres Mannes aus der Tasche und knallte sie vor Lukas auf den Tisch. Dieser griff mit zitternden Händen den Telefonhörer. »Klinikum Maiwald, Notaufnahme ...«

      Eine hektische Stimme unterbrach ihn. »35-jähriger Patient, Zustand nach Autounfall, Verdacht auf Beckenfraktur, stumpfes Bauchtrauma, hypovolämischer Schock, SHT, vermutlich Grad II, Kreislauf ist notdürftig stabilisiert! Sofort Schockraum, Ankunft in etwa ... 10 Minuten per Hubschrauber! Mindestens 6 EK’s bereitstellen, 0 D negativ!«

      Er hatte, so gut es ging, den Text auf einem Zettel mitgeschrieben. Verstanden hatte er nicht viel. »Alles klar!« Am anderen Ende wurde aufgelegt.

      Lukas sah auf. Vor ihm stand die Frau, wedelte mit der Chipkarte und sah ihn herausfordernd an.

      »Da brauchen wir wohl ein paar Ärzte ...«, murmelte er.

      »Allerdings!«, rief sie energisch.

      Neben dem Telefon war ein Knopf angebracht, mit dem man ein komplettes Team aus medizinischem Personal in die Notaufnahme rufen konnte. Das hatte ihm die Krankenschwester am Tresen am ersten Tag erklärt. Dieser diente speziell für Notfälle.

      Lukas betätigte den Schalter, sprang auf, griff seinen Zettel und rannte nach hinten, um die Schwester zu holen.

      10 Minuten später hockte er wieder vorne.