„Mit den Tränen einer weinenden Lacrima besiegelt“, verkündete Roxane feierlich und langsam berührte Primel mit ihrer goldenen Fingerkuppe Roxanes goldenen Finger.
Ein heller Schein glühte um ihre Hände herum auf, hielt einige Sekunden an und verlosch.
Primels Fingerkuppe sah genauso aus wie zuvor.
Sie wunderte sich noch und konnte nicht fassen, was sie gerade versprochen hatte, aber Roxane freute sich. Sie flog durch das Zimmer und sang Lieder von Abenteuern, die sie in den nächsten 23 Stunden erleben würde.
Primel rückte ganz nah an Lil ran und flüsterte ihrer Schwester zu: „Du musst mir helfen, Lil!“
Diese nickte bedächtig und schnappte sich ihren Schmusehasi. Die beiden beobachteten Roxane, die mit jedem Flügelschlag glücklicher zu werden schien.
Primel fühlte sich irgendwie schlecht. Sie hatte ein Versprechen abgegeben und war sich eigentlich sicher, dass sie kein Abenteuer von jetzt auf gleich aus dem Ärmel schütteln konnte. Oder reichte der Fee ein Ausflug ins Schwimmbad? Was nun?
Plötzlich landete Roxane auf Primels Knie. Sie war wie verändert.
Zwar war die Fee schon vor ihrem Flug unglaublich schön gewesen, aber nun schien sie noch mehr zu glänzen und zu strahlen.
Primel sah genauer hin und erschrak. Roxane weinte noch immer. Goldene Tränen liefen ihre Wangen hinunter. War ihr Versprechen etwa umsonst gewesen?
Doch dann begriff sie. Es waren Freudentränen. Die kleine Fee strahlte Primel an. Sie zog ihren kleinen Fingerhut mit den gesammelten Tränen hervor.
„Die Tränen einer Tränenfee sind magisch. Sie besiegeln nicht nur Versprechen, sondern verraten auch Wahrheiten. Jeder, der eine Lacrima dazu bringt, Freudentränen zu weinen, darf eine Wahrheit erfahren. Ich lasse gleich eine freudige Träne zu den traurigen Tränen tropfen, dann stellst du deine Frage und du wirst die Antwort erfahren. Doch überlege gut, du hast nur eine Frage“, erklärte sie und hielt wartend ihren Fingerhut in Position.
Primel überlegte. Was sollte sie fragen?
Sie war ja noch vollkommen überrumpelt von den Ereignissen des Tages, so dass sie Mühe hatte, einen klaren Kopf zu bewahren und dann sollte sie jetzt auch noch die richtige Frage stellen. Jede Frage, alles, was sie jemals schon hatte wissen wollen, könnte sie jetzt erfahren.
„Bereit?“, fragte Roxane.
Nein, wollte Primel schreien, aber da war es schon zu spät.
Mit einem melodischen Klang fiel die Freudenträne in die Flüssigkeit aus in Trauer vergossenen Tränen.
Dampf stieg aus dem winzigen Gefäß auf und waberte darüber, verfestigte sich zu einer weißen Wolke und wuchs immer größer bis er an die Decke stieß. Primel hielt den Atem an. Das war alles so unglaublich.
„Stell jetzt deine Frage!“, meinte Roxane von irgendwoher. Aber was sollte sie fragen?
Wo ihre Eltern gerade waren? Das würde sie erfahren, wenn diese zurückkämen.
Was in der nächsten Klassenarbeit abgeprüft werden würde? Eine verschwendete Frage.
Sie überlegte und dann hatte sie die perfekte Frage gefunden.
„Was ist mit dem vermissten Knolljungen geschehen, das meine Eltern gerade suchen?“
Ihre Stimme glitt in Wellen durch den Dampf. Er vibrierte und nahm Primels Worte in sich auf. Dann veränderte er die Farbe.
Das weiß wurde zu grün und langsam formten sich klare Bilder. Es war wie im Kino, nur viel eindrucksvoller.
Man sah ein Knolljunges, eine kleine Knöllin, hinter ihrer Mutter und ihrem Bruder herlaufen. Primel erkannte in ihm das Knolljunge, das sie heute schon gefüttert hatte.
Die kleine Knöllin schien verspielt zu sein. Sie stupste jeden Farn an und beschnupperte heruntergefallene Äste. Ab und zu jagte sie einem Sonnenstrahl nach.
Dann veränderte sich das Bild und Primel erkannte wieder die drei Knolle.
Eng aneinander gekauert saßen sie in einer tiefen Wurzelgabel. Über dem Blätterdach leuchteten die Sterne.
Und dann ging alles ganz schnell. Ein Knurren ertönte, ein Schatten sprang die Knollmutter an. Sie verließ die Wurzel und schmiss sich dem Angreifer entgegen.
Das kleine Knolljunge krabbelte über die Wurzel und suchte dahinter Schutz. Seine Schwester folgte ihm, doch sie war kleiner und schaffte es nicht die Wurzel hinauf.
Ein Schatten packte sie und dann wechselte das Bild.
Geschockt starrte Primel den Dampf an. Langsam veränderte sich seine Farbe wieder.
Es wurde heller, die Sonne schien und man sah die kleine Knöllin im hohen Gras kauern. Ein weiteres Wesen, das Primel noch nie gesehen hatte, saß bei ihr. Auch dieses schien noch sehr jung zu sein. Beide wirkten verängstigt.
Dann sah man die kleine Knöllin in einer Höhle, einem Schatten gegenüber. Das Bild war düster.
Der Dampf wechselte zu Rot. Lavaströme flossen über felsige Vulkanlandschaft und Primel meinte förmlich die Hitze zu spüren. Krater taten sich auf und hier und da spritzte eine Fontäne aus Magma in die Höhe, dann sahen die Mädchen die Schatten.
Sie glitten durch das Feuer und verdunkelten den Himmel.
Plötzlich wurde der Dampf wieder weiß. Stück für Stück zog er sich in den Fingerhut zurück, bis schließlich nichts mehr zu sehen war und Roxane das Gefäß unter ihrem Rock verstaute.
Primel zitterte stark und sie atmete schnell.
Die arme kleine Knöllin. Ihre Eltern waren auf der falschen Spur. Es waren keine Menschen, die das vermisste Knolljunge entführt hatten. Es war auch nicht im Wald zurückgeblieben. Es war in der Gewalt der Schattenwesen.
„Das vermisste Knolljunge ist im Feuerland“, stellte Roxane fest.
Sie klang aufgeregt, doch Primel war zum Schreien zu Mute. Allein bei dem Gedanken an diese dunklen Schatten fröstelte sie.
„Du bist wirklich super, Primel, du hast bis jetzt von allen, die mir ein Versprechen gegeben haben, deines am schnellsten eingelöst. Wir haben jetzt ein Abenteuer! Wir befreien die kleine Knöllin“, rief Roxane, sprang auf und ab und flog aufgeregt noch eine Runde durch das Zimmer.
„Oh ja!“, schrie auch Lil.
Primel sank auf Lils Bett in die dicken Kissen. Ihre Knie zitterten, als sie verstand, was Roxane und ihre Schwester da gesagt hatten.
Sie wollten wirklich zusammen in dieses seltsame Feuerland reisen und das Knolljunge befreien?
Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Schwester sich in Gefahr begab.
Sie musste mit ihrer Mutter sprechen. Aber die hatte ihr Handy ausgeschaltet.
Primel spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Hätte sie nur nicht dieser Fee versprochen, ihr ein Abenteuer zu verschaffen. Wenn sie gewusst hätte, um welches Abenteuer es sich handelte…
Ihr wisst Bescheid, wenn nicht klingelt bei der Nachbarin oder fragt den Mäusefleder…, kamen ihr die Worte ihrer Mutter in den Kopf.
Die Nachbarin wusste nicht einmal von der Existenz magischer Wesen. Diese Möglichkeit fiel also flach. Da blieb nur noch der Mäusefleder.
„Ok, wenn wir jetzt gleich aufbrechen, sollte ich es rechtzeitig zurück zu meinem Stamm schaffen. Weiß jemand, wo das Feuerland liegt?“, fragte Roxane und blickte in die Runde.
Primel atmete erleichtert aus. Wenn keiner wusste, wo dieses Land lag, würden sie auch nicht hingehen können.
„Ich frag den Mäusefleder“, rief Lil begeistert, rappelte sich auf und lief eilig aus dem Zimmer. Mist, ihre Schwester war nicht auf den Kopf gefallen. Primel sprang ebenfalls auf. Das durfte