Mit einem letzten Blick auf die kugelrunden Fellbälle neben dem Kamin folgte ihr Primel. Auch wenn sie noch ewig hätte zuschauen können.
Eine Fee?
„Und ihnen kann hier wirklich nichts passieren?“, vergewisserte sie sich noch einmal, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.
Kurz fiel ein Schatten über die Augen ihrer Mutter, doch sie schüttelte vehement den Kopf, so dass ihre kupferrote Lockenmähne hin und her flog. Unwillkürlich fasste Primel sich in ihre eigenen Locken, die denen ihrer Mutter exakt glichen. Sie sah Arianna abwartend an. „Nein! Hier ist jedes Geschöpf sicher!“, versicherte sie ihrer Tochter.
Arianna seufzte kaum wahrnehmbar, aber Primel hatte gute Ohren. Wachsam sah sie auf, doch bevor sie irgendetwas sagen konnte, donnerten Schritte die Holztreppe hinunter, dass man meinen könnte, ein Elefant sei eingezogen.
Erschrocken wirbelte Primel herum. Es war ihre kleine Schwester.
„Lil! Du weckst das Knolljunge auf. Außerdem ist es spät. Du solltest längst schlafen”, schimpfte Arianna. Das interessierte die fünfjährige Lil allerdings nur wenig. Zuckersüß sah sie aus, wie sie mit zerzaustem, blondem Haar in ihrem rosa Schlafanzug und dem Schmusehasi in der Hand dastand. Ganz aufgeregt schien sie.
„Priml, in meinem Zimmer sitzt eine Fee!”, verkündete sie atemlos. „Komm! Schnell, sonst fliegt sie weg!”
Dann drehte sie sich um und polterte die Treppe wieder hinauf. Primel schmunzelte. Lil musste geträumt haben. Gerade vor wenigen Stunden hatte sie ihrer kleinen Schwester eine Geschichte über Lacrime, die Tränenfeen, erzählt, doch diese lebten weit entfernt und waren viel zu stolz, um Menschen um Hilfe zu beten.
Es war also absolut unmöglich, dass wirklich eine Lacrima in Lils Zimmer saß.
„Priml! Komm!”
Primel lächelte noch einmal. „Ich schau mal nach Lils Fee”, meinte sie zu ihrer Mutter. Diese nickte und steuerte auf ihr Schlafzimmer zu. Arianna war müde. „Wenn es wirklich eine Lacrima ist, holst du mich bitte. Ich schaue nachher noch einmal nach dem Knolljungen. Gute Nacht”, flüsterte sie in Primels Ohr, dann stieg Primel die Treppe hinauf zu ihrer Schwester.
„Priml!”, tönte ihr Lils quengelnde Stimme entgegen. „Priml, jetzt ist sie weggeflogen.”
Primel seufzte. Sie hatte es gewusst. Die Fee war Lils Fantasien entsprungen. Es war wohl besser so, auch wenn sich ein kleiner Teil von ihr gewünscht hatte, wirklich eine Lacrima zu sehen.
„Priml, da saß sie”, rief Lil aufgeregt und deutete auf das Fensterbrett. Primel beruhigte ihre kleine Schwester, versicherte ihr, dass sie ihr auf jeden Fall glaubte und brachte sie wieder ins Bett. „Gute Nacht, Priml”, murmelte Lil in ihren Kuschelhasen hinein. „Gute Nacht, Lil”, meinte auch Primel. „Und wenn deine Fee wieder kommt, dann gib mir Bescheid.”
Aber Lil schlief schon wieder tief und fest. Beim Verlassen des Zimmers warf Primel einen letzten Blick auf das Fensterbrett. War da nicht wirklich ein goldener Schimmer? Die goldenen Tränen der Tränenfee?
Nein, sie musste sich irren. Eine Tränen vergießende Lacrima wäre auch kein gutes Zeichen. Primel schloss die Tür und machte sich auf den Weg in ihr eigenes Zimmer.
Die traurige Knöllin
Am nächsten Morgen wachte Primel früh auf. Sie sprang aus dem Bett, machte sich auf den Weg nach unten und betrat das Wohnzimmer.
Da saßen sie, Knollmutter und Junges, in Eintracht vor dem Kamin. Beide starrten sie erwartungsvoll aus goldbraunen, vom Fell fast verdeckten Augen an.
Ein Brummeln ertönte und Primel musste lachen. „Ihr habt wohl Hunger”, stellte sie fest. Primel öffnete den Kühlschrank. Gestern, nachdem ihre Mutter die Knolle aufgelesen hatte, war sie extra noch einmal Mais kaufen gegangen und jetzt war der Kühlschrank voll davon. Sie nahm zwei Kolben heraus und reichte sie der Knollmutter.
„Hier für dich.”
Als Primel mit dem Mais näherkam, zog das Knolljunge genießerisch die Luft durch die kleinen Nasenlöcher und quiekte erfreut auf. Ganz vorsichtig krabbelte es auf Primel zu, wurde allerdings von seiner Mutter zurückgehalten.
Wie schon vermutet, rührte diese nichts an, sondern betrachtete die Maiskolben skeptisch. Seit gestern hatte sie sich nicht getraut, zu fressen.
Das Knolljunge starrte begierig auf den Mais und fiepte. „Wir tun euch nichts. Ich möchte nur helfen. Lass mich dein Junges füttern”, meinte Primel beschwörend.
Sie bückte sich, bis sie mit der Knollmutter auf Augenhöhe war. Diese sah sie einen Moment lang an, dann streckte sie zögernd die Pfote nach dem Maiskolben aus und schob mit der anderen ihr Junges in Primels Richtung. Dieses gab erfreute Töne von sich und hielt sich an Primels Schlafanzughose fest. Sie lachte und nahm es sanft in ihre Hand.
Wie gestern schon, drehte und wand es sich, um möglichst schnell den Mais zu bekommen. Primel packte fest zu, damit das Kleine ihr nicht aus den Fingern glitt.
Eine kleine, raue, rosa Zunge streckte sich aus dem Maul heraus und leckte die Maiskörner von Primels Handfläche. Irgendwann spürte Primel, wie das Knolljunge schläfrig wurde. Sie legte es zu seiner Mutter. Auch diese hatte beide Maiskolben samt Strunk verdrückt. Ein leiser Rülpser entwich dem Knolljungen, bevor es in seinen schnarchenden Verdauungsschlaf verfiel. Die Knollmutter blinzelte Primel dankbar an.
Nachdem die Knolle versorgt waren, bemerkte Primel, wie hungrig sie selbst war. Die Sommersonne ging gerade auf und warf ihr sanftes Licht in das Wohnzimmer. Es war Samstag und noch dazu der Beginn von sechs Wochen Sommerferien. Sie steckte Toastscheiben in den Toaster, suchte zwischen dem ganzen Mais im Kühlschrank nach der Butter, stellte für Lil die Nougatcreme auf den Tisch und für ihre Mutter den Honig.
Nachdenklich betrachtete Primel die Frühstücksteller. Arianna hatte sie selbst bemalt. Kleine Feen und andere magische Wesen, die Primel nicht kannte, schwirrten auf den Tellern herum.
Unwillkürlich dachte Primel an ihre Schwester und den gestrigen Abend. Sie seufzte. Wie gerne hätte sie wirklich eine Fee gesehen.
Aber Primel, schalte sie sich selbst. Für deine zwölf Jahre hast du sowieso schon viel gesehen. Welches Mädchen aus deiner Klasse kann schon von sich sagen, einen Knoll gefüttert zu haben? Wer konnte überhaupt von sich sagen, dass er von der Existenz magischer Wesen wusste?
Irgendwann, wenn sie groß war - da war sich Primel sicher- würde sie um die Welt reisen und fantastischen Wesen helfen.
Und irgendwann - da war sich Primel auch sicher - würde sie eine Lacrima zu Gesicht bekommen. Sie musste nur geduldig sein und warten.
Primel setzte sich in den Ohrensessel, der so groß war, dass sie fast darin verschwand und beobachtete die Knolle. Die Knollmutter kauerte schützend über ihrem schlafenden Jungen. Sie wirkt irgendwie traurig, dachte Primel, wie sie so die Knöllin betrachtete.
Primel wusste nicht, wie lange sie so dasaß. Die Sonne war längst aufgegangen und wärmte Primels Oberschenkel, die Knollmutter hatte ihr schlafendes Junges geputzt und die Butter war etwas weich geworden.
Zuerst kam Arianna mit wirren roten Haaren und ebenfalls im Schlafanzug, dann folgte ihr Vater, gewaschen, umgezogen und hergerichtet und zuletzt polterte Lil unüberhörbar die Treppe hinunter. Ihren Kuschelhasen hatte sie wieder dabei.
„Guten Morgen”, begrüßte Primel ihre Familie.
„Guten Morgen, mein Schatz. Ich sehe, du warst schon fleißig”, meinte Arianna und strich Primel anerkennend über die Schulter. Lil versenkte sofort ihren Finger in der Nougatcreme. Bevor Arianna oder ihr Vater sie zurechtweisen konnten, machte sich das Knolljunge bemerkbar. Es war aufgewacht und stupste seine Mutter an, mit ihm zu spielen, aber diese blieb