Zutiefst betroffen stand Primel da. Vorhin war es ganz einfach gewesen, Lil zu trösten, aber wie tröstete man eine weinende Fee? Eine Tränen vergießende Lacrima bedeutete Gefahr. Und eine Lacrima, die normal zu stolz war, um sich mit anderen Wesen abzugeben, jetzt aber im Zimmer eines Menschenmädchens saß, war auch kein gutes Zeichen.
Primel ahnte Übles. Sie musste herausfinden, was los war. „Können wir dir irgendwie helfen?“
Keine Antwort.
Primel dachte schon, Roxane hätte sie nicht gehört, doch dann sah sie, wie diese den Kopf schüttelte. Jetzt war Primel ratlos. Wieso kam dieses Geschöpf zu ihnen, wenn es sowieso nicht davon ausging, dass sie ihm helfen konnten? Roxane musste sehr verzweifelt sein. Sie tat Primel leid.
„Erzähl doch mal“, bot sie an und setzte sich vorsichtig neben die kleine Fee auf den Boden. Die wunderhübsche Regenbogenspatzenfeder steckte sie in ihre Tasche.
„Ihr seid Menschen“, schniefte Roxane. Primel ignorierte den abwertenden Unterton in ihrer Stimme und schwieg. Auch Lil blickte von ihrem Bett aus etwas verwirrt auf die weinende Lacrima.
„Weißt du was, Rossane? Priml kann dir bestimmt helfen. Ganz sicher, weil mir kann sie auch immer helfen“, sagte sie und Primel wurde warm ums Herz.
„Ich heiße Roxane“, murmelte die Fee, doch es klang nicht mehr halb so wütend wie zuvor. Sie wischte sich die goldenen Tränen aus dem Gesicht und blickte Primel an. „So, so, kannst du das?“, wollte sie wissen und es klang wie eine Lehrerin, die ihre Schülerin prüfte. „Kannst du immer helfen?“
Primel fühlte sich unbehaglich. Was sollte sie sagen? Bei nein, würde Roxane sofort wieder verschwinden und das wollte sie nicht, ein ja wäre aber auch gelogen.
Sie entschied sich für die diplomatische Lösung: „Ich kann es versuchen.“
Roxane schwieg. Gewiss hörte sie den Zweifel in Primels Stimme.
Doch dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck in Entschlossenheit.
„Ich kann eh nichts mehr verlieren. Mein Stolz war das letzte, was mir blieb und selbst diesen habe ich auf dem Weg hierher irgendwo verloren. Also …“, begann sie und sowohl Primel als auch Lil beugten sich vor.
Roxanes Geschichte
„Naja“, meinte Roxane und schniefte. Sie machte eine dramatische Pause.
„Ich habe vor genau 8735 Stunden und 53 Minuten Geburtstag gehabt.“
Sie blickte von Primel zu Lil und wieder zurück. Keine reagierte, weil keine das Problem verstand. Roxane runzelte die Stirn. Sie murmelte irgendetwas von dummen Menschen, dann blickte sie auf und fuhr fort: „Ich bin vor genau 8735 Stunden und 53 Minuten 100 Jahre alt geworden.“
Wieder machte sie eine Pause, wieder sah sie Lil und Primel an und noch immer verstanden diese nicht.
„Ähm, Roxane“, begann Primel zaghaft und sehr vorsichtig. „Wir sind Menschen und kennen uns nicht mit Feen aus. Du bist die erste Fee, der wir begegnen.“
Roxane wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ok, dann erklär ich es euch, aber ich habe nur noch 23 Stunden und 7 Minuten Zeit, nein, jetzt sind es 6 Minuten. Oh je, ich glaube, ich schaff es nicht mehr!“, begann sie und stockte. „8735 Stunden sind 364 Tage. Das heißt, ich habe morgen Geburtstag und wenn ich … wenn ich…“
Sie kauerte sich zusammen, dann raffte sie sich wieder auf und blickte entschlossen und ohne Regung die beiden Mädchen an.
„…wenn ich bis morgen kein Abenteuer erlebt habe, werde ich aus meinem Stamm verstoßen und werde für immer alleine als Einzelgängerin leben müssen“, sie biss die Zähne zusammen und fuhr fort. „Bei uns Lacrime ist es Brauch, dass jedes Feenkind bevor es in den Erwachsenenstand gehoben wird ein Abenteuer erleben muss. Jedes Feenkind, das sein hundertstes Lebensjahr erreicht, hat genau ein Jahr Zeit, um in die Welt zu ziehen und sein eigenes Abenteuer zu erleben. Wenn es bis zum Abend seines einhundertundersten Geburtstages nicht zurück bei seinem Stamm ist und ein Abenteuer erlebt hat, wird es nicht den Erwachsenenstand erreichen. Und wenn ich bis morgen Abend kein Abenteuer erlebt habe, werde ich verstoßen.“
Roxane schwieg und ließ die zarten Flügel hängen. Irgendwie hatte Primel das Bedürfnis, ihr zu helfen.
„Weißt du, ich finde, du bist sehr mutig“, fing sie zögerlich an. Roxane schniefte. Etwas sicherer sprach Primel weiter: „Wie viele Feen aus deinem Stamm sind mutig genug, um Menschen aufzusuchen und ihnen von ihrem Problem zu erzählen? Ich finde, da gehört eine ganze Portion Mut dazu, denn oft ist es nicht leicht, sich sein Problem einzugestehen und andere um Hilfe zu bitten. Stimmt doch, Lil, oder?“
„Ja, stimmt.“ Lil nickte wild mit ihrem Kopf.
Verstohlen wischte Roxane sich eine Träne aus dem Augenwinkel, dann sah sie auf und kurz stockte Primel der Atem von so viel trauriger Schönheit.
„Was nützt mir diese Art von Mut, wenn ich doch kein Abenteuer erlebt habe und ihr mir hier wohl auch keins herbeizaubern könnt?“
Bei dem Wort „zaubern“ zuckte sie zusammen, als hätte sie jetzt erst etwas Grundlegendes erkannt. „Ohne das Abenteuer werde ich nie richtig zaubern können.“ Sie flüsterte fast, doch Primel konnte sie gut verstehen und sie ertappte sich dabei, wie ihre eigenen Augen glasig wurden. Sie überlegte fieberhaft.
Ihr Zuhause war eine Hilfsstation für magische Wesen in Not und Roxane war ein magisches Wesen in Not.
Ihre Mutter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, all diesen Hilfe suchenden Geschöpfen mit allen Möglichkeiten zur Seite zu stehen. Aber ihre Mutter war nicht hier.
Also mussten sie selbst und Lil Roxane helfen.
Bevor sie überhaupt nachdachte, was sie sagte, waren die Worte schon ihrem Mund entschlüpft: „Wir werden dir ein Abenteuer besorgen.“
Eine Wahrheit
Sowohl Roxane als auch Lil sahen sie ungläubig an. Um sich selbst Mut zu machen, nickte Primel kräftig. Sie wusste zwar nicht wie, aber irgendwie würde sie es schon drehen.
Zur Not fragte sie einfach den Mäusefleder. Der wusste doch alles, oder?
Roxane schien nachzudenken, dann hellte sich ihr Gesicht auf und ganz langsam, aber so elegant, wie Primel es niemals würde sein können, erhob sie sich.
Sie blickte Primel fast herausfordernd an, dann meinte sie: „Ich glaube dir, wenn du es versprichst. Wir Lacrime setzen viel auf Versprechen. Wenn einer etwas verspricht, ist das die Garantie, dass er es halten wird. Bitte, versprich es mir, erst dann kann ich beruhigt sein.“
Primel krallte ihre Hände in ihr T-Shirt. Sollte sie etwas versprechen, von dem sie wusste, dass sie es womöglich nicht würde halten können?
Andererseits tat sie ja eine gute Tat, wenn sie durch ein Versprechen eine verzweifelte Tränenfee beruhigen konnte. Und vielleicht genügte ein Ausflug in die Stadt schon als Abenteuer.
„Also gut, ich verspreche es“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Es war ja nichts dabei, oder?
Sie würde es ja nicht unbedingt halten müssen, oder?
Roxane lächelte zum ersten Mal, griff unter ihren Rock und zog ein kleines fingerhutgroßes Gefäß hervor, in dem eine goldene Flüssigkeit zu erkennen war. Die Lacrima schraubte den Behälter auf, hielt ihn Primel hin und forderte sie auf, ihren Finger hinein zu tauchen.
Primels kleiner Finger passte gerade so weit hinein, dass sie etwas der Flüssigkeit erspürte. Es