Ich harre noch einige Minuten in der Diele aus und wünsche mir, ich hätte zweimal nachgedacht, ehe ich voller Mordlust aus der Wohnung stürze. Möglicherweise wäre ich dabei auf die Idee gekommen, dass der Lärm auch von einem neuen Mieter rühren könnte, der gerade dabei ist, einzuziehen. Nicht nur, dass ich wie eine übernächtigte Furie morgens um halb acht meinem Vermieter eine Standpauke halten wollte, nein, ich muss mich auch noch vor meinem neuen Nachbarn zur Idiotin machen.
Ich schließe die Augen und stoße einen Seufzer aus. Wieso nur tue ich mich seit vergangenem Freitag so verdammt schwer, ein Auge zuzumachen? Weshalb habe ich in den letzten Tagen nicht einfach mal einen Blick aufs schwarze Brett geworfen? Warum muss ich gerade heute mein Rückgrat und meine aufbrausende Seite entdecken?
Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt, bleibt dumm.
Nein, ich singe nicht den Titelsong der Sesamstraße. Antworten auf meine, zugegeben, hypothetisch-rhetorischen Fragen hätte ich dennoch gern. Allerdings weiß ich aus Erfahrung, dass es Fragen gibt, auf die man einfach keine Antwort bekommt, so gern man sie auch hätte. Aus einem verqueren Blickwinkel kann man diese Nicht-Antwort wahrscheinlich auch als Form von Antwort ansehen, allerdings hilft mir das auch nicht weiter.
Jetzt, da mein Adrenalinspiegel sinkt, nehme ich abermals die in meinem Körper steckende Müdigkeit und den seltsam löchrigen Zustand meines Nervenkostüms wahr. Etwas läuft entschieden falsch. Schon wieder. Oder viel mehr, immer noch. Ich weiß nicht was das Ganze soll, aber wenn es nach mir geht, kann ich gut und gerne darauf verzichten. Weder habe ich Bedarf an schlaflosen Nächten, noch an einem Nachbarn, der ungefragt mein Zuhause stürmt – immerhin war ich zuerst da.
In einem kleinen Teich von Selbstmitleid und Scham paddelnd, überlege ich, ob ich zum Kiosk fahren, mir eine Zeitung kaufen und die Anzeigen für Mietwohnungen durchforsten soll. Nur für den Fall, dass das Zusammenleben mit meinem neuen Nachbarn weitergeht, wie es begonnen hat.
Allerdings muss ich das ja nicht sofort tun. Jetzt gleich will ich mich unbedingt noch mal in mein Bett kriechen – oder vielmehr will ich mich darin verkriechen.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer schnappe ich mir aus dem Bad ein Stück Klopapier, knülle es zu zwei Stöpseln zusammen und stopfe sie mir in die Ohren. Etwas Besseres zur Lärmdämmung habe ich leider nicht parat. Konnte ja niemand ahnen, dass heute ein Mann mit schokobraunen Augen samt Hausstand und Gefolge anrückt. Gut, wer einen Blick aufs schwarze Brett geworfen hat, konnte es nicht nur ahnen, sondern vielmehr fest damit rechnen. Das ist ohne Frage der Grund, warum sich niemand der übrigen Hausbewohner am Lärm gestört hat.
Der Philosoph Francis Bacon hatte schon recht, geht es mir durch den Kopf, als ich die Bettdecke über mich ziehe. Wissen ist tatsächlich Macht. Und, wie ich ergänze, obendrein von enormem Vorteil, wenn man sich nicht zur rosa Kitty machen will.
4 – Verbales Ping-Pong 1.0
Ich wache auf, obwohl von Erwachen nach diesem mickrigen Versuch noch etwas Schlaf abzubekommen, nicht die Rede sein kann. Zwar bin ich immer mal wieder kurzzeitig weggedöst, aber das lässt sich allenfalls als Dämmerzustand bezeichnen, nicht als vollwertiger Schlaf. Die provisorischen Ohrstöpsel haben wenig geholfen und richtig steckengeblieben sind sie gleich zweimal nicht. Den erneuten Gang ins Bett hätte ich mir demnach sparen können.
Ich riskiere einen Blick auf mein Handy. Kurz vor neun, immer noch der gleiche bescheuerte Samstagmorgen mit dem gleichen Gefühl von Müdigkeit, innerer Unruhe und Verlegenheit.
Ich rolle mich auf den Rücken und starre an die Zimmerdecke. Das Beben und Vibrieren bilde ich mir hoffentlich nur ein. Wenn die Decke plötzlich runterkäme, wäre das wirklich die Krönung dieses Morgens.
Ob Alexander Koller dann auch gleich mit in meinem Bett landen würde, spinne ich den ohnehin überzogenen Gedanken weiter. Irgendwie finde ich diese Vorstellung sogar noch schlimmer als die, von Schutt erschlagen zu werden. Das wiederum ist definitiv verrückt und obendrein eine Spur bemitleidenswert. Welche Frau würde einen Freifahrtschein in einen gemütlichen Sarg – oder zum plastischen Chirurgen, sofern man nur Stellenweise zerquetscht wäre – einem unleugbar gutaussehenden Kerl als Bettgesellschaft vorziehen? Bestimmt nur solche, die sie nicht mehr alle beisammen haben.
Aber wann bin ich zu so jemandem geworden? War ich schon immer so? Ich glaube nicht, sicher bin ich mir jedoch nicht.
Um nicht von meinen Gedanken in den Wahnsinn getrieben zu werden, schiebe ich mich aus dem Bett, schnappe mir das Handtelefon aus dem Flur, krieche wieder zurück in mein weiches Territorium und wähle Annes Nummer.
Kaum eine Sekunde später drücke ich hastig auf die Auflegen-Taste. Es ist Samstag und immer noch relativ früh. Ob Anne überhaupt schon wach ist? Und Thomas? Vielleicht war er bis spät in der Kanzlei und ist erst vor kurzem eingeschlafen? Andererseits ist Anne Frühaufsteherin und Thomas eigentlich auch. Demnach sollten beide schon wach sein – eigentlich.
Unschlüssig beiße ich auf meiner Unterlippe herum.
Da mein Verlangen, mich jemandem mitzuteilen und lautstark über meine Lage auszulassen, stärker ist als mein aktuelles Maß an Rücksichtnahme, lasse ich es auf einen Versuch ankommen und drücke die Wahlwiederholung. Nach dem dritten Läuten nimmt jemand ab und zwar Anne.
„Rosint?“
Erleichtert seufze ich ins Telefon. „Hallo Anne, ich bin’s, Hannah. Habe ich dich geweckt?“
„Hey, nein, ich war schon im Bad und gerade auf dem Weg in die Küche.“ Eine kurze Pause. „Warum rufst du schon so früh an? Ist was passiert?“
Ihre Skepsis kann ich ihr wohl kaum übel nehmen. Ich zähle definitiv nicht zu den Frühaufstehern. Da ich wochentags notgedrungen aus den Federn muss, schlafe ich am Wochenende furchtbar gerne aus und ausschlafen bedeutet in diesem Zusammenhang mindestens halb zehn, noch besser zehn Uhr.
„Ich würde gerne noch im Bett liegen und einem schönen Traum nachhängen“, erwidere ich gähnend. Dann berichte ich Anne von meiner schlaflosen Nacht. Allerdings ohne zu erwähnen, dass ich dieses Problem bereits seit einer Woche – um genau zu sein, seit dem Abend, an dem sie mir von ihrer Schwangerschaft erzählt hat – habe. Ich berichte lebhaft und mit jeder Menge Adjektiven von dem bösen Erwachen unterhalb einer Einzugsbaustelle, die mich gänzlich unvorbereitet getroffen hat und von Alexander Koller, denn den kann ich inmitten der ganzen Story schlecht auslassen.
Nachdem Anne herauszufinden versucht hat, über was ich mich denn nun mehr aufrege – die Ruhestörung oder den, mit meinen Worten, peinlichen Zusammenstoß –, kommt sie direkt zur Sache.
„Du musst unbedingt rauskriegen, ob er Single ist!“
„Daran habe ich ehrlich gesagt noch keinen Gedanken verschwendet“, entgegne ich Augen rollend. „Ich bin froh, dass ich mich nicht mit Barbie 2.0 herumplagen muss, aber wie – und ob – ich mit ihrem Nachfolger zurechtkomme, kann ich noch nicht sagen. Im Moment habe ich gemischte Gefühle.“ Es lässt sich nicht leugnen, dass ich überhaupt und generell jede Menge gemischte Gefühle beherberge.
„Ist doch alles halb so schlimm und morgen schon wieder vergessen. Für mich hört sich das eher nach einer vielversprechenden Chance an.“
„Vielversprechende Chance?“, wiederhole ich skeptisch. „Inwiefern?“
„Schon mal was von Love Next Door gehört? Du hast die besten Voraussetzungen Alexander Koller auf unkomplizierte Weise kennenzulernen, immerhin werdet ihr euch von nun an ständig über den Weg laufen.“
„Vielen Dank, das hätte ich fast vergessen“,