Außer Atem kam Teri im Fremdenhaus an. Mit hochrotem, stolzem Gesicht breitete sie ihr Lager aus. Sie konnte ihre Freude nicht verbergen. Leise summte sie vor sich hin und streichelte liebevoll über ihre Felldecke.
Manche ihrer Mitbewohner im Fremdenhaus sahen sich vielsagend an. Sie vermuteten, die junge Frau habe wohl gerade ein beglückendes, vielleicht sogar ihr erstes, Liebesabenteuer gehabt. - Sie hatten gar nicht so unrecht.
Der folgende Tag brachte Teri eine Reihe neuer Erkenntnisse.
Mangels besserer Beschäftigung schlief sie morgens, bis die Rufe eines Wanderhändlers sie weckten.
Nach einem ausgiebigen Frühstück aus ihren eigenen Beständen gab sie ihr Bündel der Wirtin einer Hafenschenke in Obhut und besuchte die Orte, die sie als Kind so gut gekannt hatte.
Wie grau und eng alles geworden war.
Seit über zwei Jahren hatte Teri sich an die Weite des offenen Meeres und die lichtdurchfluteten, großzügig angelegten Hafenstädte des Südens gewöhnt. - Erstaunlich zu erkennen, wie Thedra im Vergleich dazu abschnitt.
Der Platz am Schneckenhafen, früher Teris Zentrum der Welt, wo die größten Feste des Kontinents gefeiert wurden, war ein Steingeviert mittlerer Größe, etwa wie ein Vorortmarkt von Osange. Der Hafen selbst war klein. - Regelrecht klein.
Der Strand, früher ein endloser Spielplatz voller feinen Sandes, war zu einem kurzen, klippenumstandenen Stück Kies geworden, der unter den Füßen knirschte. - Kein Vergleich mit dem wirklich endlosen, weißen Strand bei Kaji!
Auch waren die Wohntürme längst nicht mehr so hoch, wie sie Teri einst erschienen waren. Einzig die Königsklippe ragte in wirklich imponierender Höhe über den Häfen auf.
Teri fühlte sich bestohlen und beschenkt zugleich. - Bestohlen um die Illusion in der Stadt aller Städte, im Land aller Länder zu leben. - Beschenkt um die Erkenntnis, dass es freundliche und unfreundliche, kluge und dumme, sanfte und gewalttätige Menschen überall auf der Welt gab. - Ob sie sich hier in Thedra oder in Isco, in Osange oder Ago aufhielt, überall gingen die Menschen ihren Geschäften nach, zankten und vertrugen sich und scherten sich nur wenig darum, was Götter und Könige vorschrieben.
Sicher gab es Unterschiede zwischen dem Gastgeber in Kaji, der als geizig galt, wenn er den Gast nicht aufs Feinste bewirtete und dem Gastgeber aus Thedra, der seinen Gast geizig nannte, wenn der sich sein Essen nicht selbst mitbrachte, das sah auch Teri. - Aber hier, im alten Thedra, fühlte sie sich zum erstenmal so richtig als weitgereiste Weltbürgerin und lebte dieses Gefühl auch in vollen Zügen aus.
Die klimatischen und geographischen Gegebenheiten völlig außer acht lassend, begann sie, Thedra vor ihrem geistigen Auge komplett umzugestalten. Thedra hätte eine so schöne Stadt sein können, fand sie, wenn sich die Bewohner nur ein wenig Mühe geben würden. - Sie selbst hatte jedenfalls die berühmte thedranische Arroganz gegen die Ignoranz der Weltreisenden eingetauscht. Ihr reichte das Blümchen in der Mauerspalte nicht mehr. - Es mußten Palmen sein! Die Straßen hätten breiter, die Plätze größer und die Wohnungen prächtiger sein müssen! Bedauernd stellte Teri bereits am Vormittag fest: Thedra war Provinz!
Die Tagteilung ging vorüber.
Etwas wie Wehmut schlich sich in Teris Gedanken. Wie bei einem Kind, das nach und nach erkennt, dass der eigene Vater nicht der stärkste Mann der Welt ist, wandelte sich ihr Geist, aber nicht ihr Gefühl. Noch immer war Thedra die Stadt aus der sie kam, wo sie sich auskannte, die sie liebte. Doch sah sie jetzt, dass auch andere Städte durchaus mit Thedra konkurrieren konnten.
Ärmer an Illusionen aber reicher an Erfahrung schlenderte Teri durch Straßen und Gassen. Was blieb, waren die Fliegenden Schiffe, Frucht der Erfindungsgabe und des Geistes der Thedraner. Sie waren es, die Thedra einzig machten unter der Sonne! - Und mit ein wenig Glück würde Teri schon bald selbst zur Sturmflottenschar zählen und wieder ferne, interessante Länder und Städte bereisen. - Hoffentlich!
Zeitig stand Teri am nächsten Morgen auf. Sie hatte tief geschlafen und fühlte sich erholt.
Nach einem kleinen Frühstück schnürte sie ihr Bündel zusammen, klopfte das muffige Stroh des Fremdenhauses davon ab und ging auf den Hafenplatz hinaus.
Obwohl die Herbstsonne auf den schwach belebten Platz schien, fröstelte Teri in der Kühle des Morgens. Ein frischer Wind kräuselte das stille Wasser des Hafenbeckens und zerrte kurz an ihren Kleidern. Ab und zu drang das Knarren von Tauwerk und Holz durch die Stille, für Teri ein Geräusch, so vertraut wie der Schlag des eigenen Herzens.
Es blieb noch viel Zeit bis zur Tagteilung. Teri beschloß, sich bis dahin die Zeit mit einem Rundgang durch die Stadt zu vertreiben, die sie heute schon mit freundlicheren Augen betrachtete. Sie war wieder daheim!
Hatte Thedra auch nicht die Weitläufigkeit Osanges zu bieten, so gab es hier doch auch nicht nahezu täglich kleine Erdbeben. - Waren die Strände auch nicht so weiß, wie die von Kaji, so ließ man doch hier nicht die Sterbenden in Einsamkeit zurück. - Mochte es auch nicht ewiger Frühling sein, wie in Ago, so war doch der frische Wind, der in Böen um die Felstürme strich, auch etwas wert.
Teri warf einen kurzen Blick auf die Stelle, an der noch gestern die `Sesiol' gelegen hatte. Ihre Vermutung war richtig gewesen: Der Kapitän hatte keine anderen Geschäfte in Thedra gehabt. Keine Fracht war gelöscht und keine Handelsware an Bord gebracht worden. Nur ein wenig frischen Proviant hatte der Kapitän von den Händlern auf dem Kai erstanden. Nachdem Teri von Bord war, war die `Sesiol' sofort mit der nächsten Flut wieder auf die Reise gegangen. Der einzige Sinn und Zweck ihres Abstechers nach Thedra war erfüllt gewesen. Teri war wieder zu Hause.
Teri sog tief die frische Luft ein. Zu Hause! - Gestern war sie von Thedra enttäuscht gewesen. Hatte geglaubt, so etwas wie ein Zuhause könne es für sie hier nicht mehr geben. - Hatte gedacht, die Fliegenden Schiffe seien das einzige, was Thedra vor den anderen Städten des Kontinents auszeichne. - Doch sie hatte sich getäuscht.
Je mehr sie sich in der Stadt umsah, je mehr sie zur Ruhe kam, umso deutlicher spürte sie, dass Thedra mehr war. - Dass es für sie mehr war!
Langsam gewannen die grauen, engen Straßen und Gassen ihre alte Bedeutung zurück. - Kaum eine Stufe gab es in dieser Stadt, über die sie nicht schon hunderte von Malen gesprungen war. - Kaum eine Wohnhöhle, in die sie nicht wenigstens einmal neugierig hineingespäht hatte. - Hier hatte der Großvater ihr Geschichten aus seiner Scharzeit erzählt, und hier hatte sie ihren Eltern bei der Arbeit geholfen. - Hier hatte sie Lachen und Weinen, Freude und Trauer, Zorn und Versöhnung kennengelernt. - Und immer hatte Thedra sie beschützt, so wie es alle beschützte, die zwischen den Wohntürmen ihr Heimatrecht hatten.
Teri begann, Thedra zu lieben. Hier kannte sie sich aus. - Hier gab es Gesetze, die die Menschen schützten. Hier brauchte man keine Angst vor Finderschiffen zu haben. Hier war man nicht fremden Hafenmeistern ausgesetzt, die Kindern das Geld stahlen und ihre Eltern ermordeten. Hier war das Leben einfach. Man mußte sich nur an die Gesetze halten und es würde einem gut gehen! Jetzt erst merkte Teri, wie müde sie war. - Wie erschöpft davon, sich immer wieder auf Fremdes, Unbekanntes einstellen zu müssen. Ein Wunsch breitete sich in ihr aus: Sie wollte sich am liebsten in eine dieser gemütlichen Wohnhöhlen verkriechen und nie wieder herauskommen. Wieder klein sein, Kind sein, beschützt von den steinernen Türmen der Stätte ihrer Kindheit! Teri liebte Thedra so sehr; wenn sie in diesem Moment jemand gefragt hätte, sie hätte geantwortet, dass sie für immer hierbleiben wolle. Für immer im Schutz dieser starken, freundlichen Stadt, die wie eine Großmutter liebevoll und betulich für die Ihren sorgte.
"Bleib stehen, Fremde! - He, bleib stehen!"
Teri fühlte sich nicht angesprochen. Gerade trieb sie in ihrer Wolke aus Wohlbehagen und Heimkehrerglück durch das Gewimmel