Zögernd trat Teri vor. Die Stelle war ihr nicht geheuer. Der Stein, der eine Mannslänge im Quadrat maß und etwa eine Viertelmannslänge hoch war, lag im hellen Sonnenlicht wie eine Drohung vor ihr. Was konnte es sein, was dieser Stein an sich hatte? Was sollte sie ertasten, was dem Fels abringen? Oder würde es gar nicht anstrengend sein? Es gab Dinge, die schrien ihre Geschichten geradezu heraus.
Widerstrebend streckte Teri ihre Hand aus. Was würde der Stein ihr erzählen? War er eine Richtstätte aus alter Zeit, die getränkt mit Blut und Qualen, mit schrillem Kreischen noch von Pein und Not der Getöteten kündete? - War es ein Opferstein, der von den letzten Zuckungen herausgerissener Herzen zu berichten wußte?
Teri wußte nicht, was sie von diesem unheimlichen Fremden halten sollte, der von ihr verlangte, sich selbst zu quälen. - Dieser Stein gefiel ihr ganz und gar nicht, aber ihre Neugier war stärker. Entschlossen legte sie die Hand fest auf den Stein. Teri wollte wissen.
Der Schock blieb aus. Fest lag Teris Hand auf dem großen Stein und schmiegte sich eng an die raue, verwitterte Oberfläche. Teri spürte ein vages Wohlgefühl, hatte einen kurzen Eindruck fröhlicher Musik, spürte ein Verlangen - das Verlangen einer Frau, hörte Lachen, hatte das Gefühl, sich im Tanz zu drehen ...
Teri zog die Hand zurück. "Du hast mir Angst gemacht", sagte sie zu Ging gewandt. "Aber es ist ein guter Stein. Feste sind hier gefeiert worden. Fröhliche Feste." Wieder berührte sie den Stein und lauschte, und plötzlich traf sie die Erleuchtung: "Hochzeiten! - Auf diesem Stein haben die Brautpaare gestanden!"
"Jaaa!", brüllte Ging los, wobei er ein paar unbeholfene Hopser machte und sich dabei um sich selbst drehte. "Jaaa! Du kannst es! Du kannst es! Jaaaa! - Ich habe eine Schwester! - Jaaa!"
Schwester? Teri fiel es schwer, in diesem kleinen Kerl, der in grotesken, plumpen Sprüngen vor ihr umherhüpfte, so etwas wie einen Bruder zu sehen.
"Eine Schwester!" Ging war ganz außer sich. "Wir Wanderer können es auch! Alle Wanderer können es. Nie sah ich eine Frau, die die Sprache der Dinge verstand. - Eine Schwester!"
Teri zog ihre Hand zurück und setzte sich auf den Stein. "Ihr Wanderer, sagst du? Seid ihr ein Volk? Wo liegt euer Land?"
"Wären wir Wanderer, wenn wir ein Land hätten? - Wären wir?" Ging blieb stehen und sah Teri mißbilligend an.
"Also nicht!" Teri hatte nicht die Absicht, sich von diesem Wanderer, was immer das sein mochte, abkanzeln zu lassen. "Ihr seid also Wanderer. Ihr habt kein Land, und eure Frauen können die Sprache der Dinge nicht verstehen. Richtig?"
"Falsch!" Ging schob seinen runden Körper neben Teri. Selbst der flache Stein war als Sitz fast zu hoch für ihn. " Wir sind Wanderer, alle Straßen der Welt sind unser eigen, und Frauen haben wir nicht! Falsch!"
"Wie, ihr habt keine Frauen?"
"Nur Männer!", bestätigte Ging. "Nur!"
"Aber, aber das geht doch nicht! - Ich meine wie ..." Teri fehlten die Worte.
"Wir suchen uns Menschenfrauen! - Wir suchen", half Ging ihr weiter.
"Aha!" Teri ahnte Übles.
"Auch meine Zeit ist bald gekommen. Ich habe jetzt das Alter, einen neuen Wanderer zu zeugen. Ja! - Auch meine Zeit."
"Aha!" Teri rutsche unruhig auf dem Hochzeitsstein hin und her. Schließlich überkreuzte sie die Arme und schlug die Beine übereinander.
"Es ist schwer, eine Frau zu finden, die einen Wanderer gebären will. - Es ist schwer", seufzte Dessen Vater Ging und sah Teri traurig an.
"Oh, äh, das tut mir Leid." Teri spürte, wie ihre Wangen sich röteten. Nie zuvor war sie sich ihres Körpers so bewußt gewesen. Sie war eine Frau, und dieser Mann wollte ein Kind zeugen. Jetzt waren es nicht mehr nur ihre Wangen, es war ihr ganzer Kopf, ihr ganzer Körper, der glühte.
Ging sah sie schweigend an.
"Äh, das ist sicher schlimm für dich", begann Teri wieder. "Aber was kann man da machen?" Oh ihr Götter, was redete sie denn da? Wußte sie denn nicht ganz genau - na ja, ziemlich genau - was man, was sie da tun konnte? Aber sie wollte doch nicht. Ganz bestimmt nicht! Aber Ging war so ein netter Kerl. Teri wollte ihn nicht verletzen.
"Weißt du, äh, ich kann nicht - äh, kann noch nicht ..."
Ging lachte glucksend auf.
Teri sah unsicher zu ihm hinüber. Lachte er wirklich?
Ging lachte nicht nur, er schlug sich sogar vor Vergnügen auf die Schenkel. "Keine Angst!", krähte er fröhlich. "Ich will nichts von dir! - Weißt du, wir Wanderer haben, was Frauen angeht, einen ganz eigenen Geschmack. - Keine Angst!"
"Wie meinst du das?" Teri war nicht direkt empört, aber sie wollte jetzt doch gern wissen, was es an ihrem Körper auszusetzen gab.
"Na ja, sie müssen schon Kinder gehabt haben. Am besten drei oder mehr. Und sie müssen, na ja ..."
"Ja?" Teri beugte sich neugierig vor. "Was?"
"Sie müssen dick sein! Unglaublich dick und geldgierig! - Sie müssen dick sein!"
"Dick, geldgierig?" Teri war maßlos erleichtert. Keinen dieser Ansprüche konnte sie erfüllen. - Und sie hatte sich schon eingebildet ...
"Ich habe gesammelt!" Ging sprang von der Mauerkante und schlug seinen Umhang auseinander. Darunter trug er ein langes ledernes Wams, das mit Taschen und Täschchen förmlich übersät war. "Achttausendsechs!" Er schlug lustig auf eine der größeren Taschen, wobei es einen klirrenden Ton gab. "Achttausendsechs Bronzestücke für die Frau, die mein Kind gebären will! - Ich habe gesammelt! Von Geburt an! Ich habe gefunden, gebettelt und gestohlen! - Nur gearbeitet habe ich nie. - Ist gegen die Ehre, weißt du? - Ich habe gesammelt!"
Achttausend Bronzestücke! - Oh ihr Götter! - Achttausend Bronzestücke trug dieser kleine Wanderer an seinem Körper! - Jetzt war es Teri auch klar, wieso sein Leib aussah wie eine Tonne - warum seine Arme so kurz wirkten und so weit vom Körper abstanden. Der arme Kerl konnte vor lauter Geld kaum noch laufen.
Ging schlug den Umhang wieder über das Wams und kam mit schweren Schritten zurückgewatschelt. Mühsam schob er sich auf seinen alten Platz neben Teri.
"Pass bloß auf, dass du nie ins Wasser fällst, mit deinem schweren Wams", riet Teri ihrem neuen Freund. "Du würdest verschwinden und nie wieder auftauchen."
"Keine Sorge", lachte Ging "Wir Wanderer meiden das Wasser, wo immer es geht. Wir trinken nur wenig und dann lieber Wein. Wir schwimmen nicht. Wir fahren nicht mit Schiffen. Wir gehen nur über Brücken, die sicher sind. Wasser vermischt sich! Es wäscht die Geschichten ab! Wasser kennt keine Geschichten und kennt sie alle! Wasser bringt den Tod und ist selbst tot ob seiner Lebendigkeit! Ich meide das Wasser! Keine Sorge!"
"Du wäschst dich auch nur selten, nicht wahr?", vermutete Teri. Ihr war von Anfang an ein Aroma an ihm aufgefallen, das ihr manchmal das Atmen ein wenig erschwerte.
"Mich verwaschen? - Bewahre! Nie!", bestätigte Ging ihren Verdacht. Wasser nimmt die Farbe! - Nimmt den Duft! - Bringt Kälte und Krankheit und nimmt das Leben! - Mich verwaschen? - Bewahre! Nie!"
Teri seufzte. Da hatte sie ja einen tollen Freund gefunden! Aber etwas interessierte sie doch: "Sag mal, Ging, sprechen eigentlich alle Wanderer so wie du?"
"Wie? Wie spreche ich denn? - Wie?"
"Na, du wiederholst zum Schluß immer das Wort vom Anfang."
"Wirklich? Tue ich das? - Wirklich?" Ging legte seine Stirn in ernste nachdenkliche Falten. "Also nein. Seltsam. Also nein."
"Schon gut", seufzte Teri und wechselte schnell das Thema.
In Gings Gesellschaft