KAPITEL 9 - LLAUKS LÄUTERUNG
Würden die Menschen aus Fehlern lernen, wie wollten sie je in Not kommen?
Als die `Große Geliebte' in sanftem Bogen Kurs auf die Einfahrt des Hafens von Thedra nahm, war noch derselbe Llauk an Bord, der hier vor kaum drei Monaten eine Passage für sich und seine Stoffballen gesucht hatte. Llauk war durch die Hölle gegangen. Aber er hatte nichts gelernt.
Sed eb Rea, der Kapitän, den er mit seinem Dolch so heimtückisch angegriffen hatte, war es nicht müde geworden, sich immer neue Strafen und Schikanen für den verhaßten Thedraner auszudenken.
Llauk hatte für die Mannschaft den Hund spielen müssen. Ganze Tage lang war er halbnackt auf allen Vieren herumgekrochen, während der Kapitän die Mannschaft anstachelte, `dem Vieh' nur ja nichts durchgehen zu lassen. Wo immer Llauk sich auch aufgehalten hatte, immer war er den Männern im Weg gewesen und mit grausamen Fußtritten vescheucht worden. Immer wieder hatte er dem Kapitän seine Dankbarkeit bekunden müssen, überhaupt noch leben zu dürfen, und immer wieder war er trotzdem geschlagen worden.
Llauk war durch die Hölle gegangen.
So manches Mal während der endlosen Tage auf See hatte er sich vorgenommen, sich einfach über Bord fallen zu lassen, um seine Leiden zu beenden. An seinem Körper gab es nicht eine einzige Stelle, die nicht geschmerzt hätte. Zwei Zähne hatte man ihm herausgetreten, ehe der Kapitän anordnete, den Kopf und die Hände des Köters zu schonen. - Schließlich sollte Llauk ja in Thedra den reichen Kaufmann spielen; da paßten sichtbare Verletzungen nicht ins Bild.
Zweimal war Llauk `entlaust' worden.
Als er es einmal gewagt hatte, sich am Kopf zu kratzen, hatte der neue Bootsmann festgestellt, dass es `mit den Flöhen jetzt doch wohl überhand nähme'. Vor Freude johlend hatte die Mannschaft den schreienden Llauk an ein Tau gebunden und mittschiffs über Bord geworfen. Um die `Entlausung' auch wirksam zu gestalten, hatten sie ihn dann mit langen Stangen unter Wasser gedrückt, bis er auch nicht mehr das kleinste bisschen Luft in seinen Lungen hatte.
Weil das Ganze ein solcher Heidenspaß gewesen war, hatte man die Kur am Tag darauf gleich noch mal wiederholt. - Von da an hatte es sich mit Llauks Selbstmordgedanken. Er würde alles tun, um nicht ertrinken zu müssen.
Überhaupt fing Llauk schon wieder an, die Sache positiv zu sehen. Wenn er nicht gerade für die Mannschaft den Hund spielen mußte, saß er still und möglichst unauffällig in irgendeinem Winkel und pflegte seine wundgescheuerten Knie und Ellbogen. - Schmerzten auch all seine Muskeln und Gelenke, war sein Körper auch von Prellungen und Blutergüssen überdeckt, wurde er auch Tag für Tag an Leib und Seele mißbraucht und gedemütigt: War er nicht auf dem Weg nach Thedra? Würde er dort nicht ein reicher Kaufmann sein? Hatte Adiv eb Aser ihm nicht den Gouverneursposten zugesagt?
Über alles gesehen, fand Llauk, lief die Sache gar nicht so schlecht, wenn ihn auch allzu oft ein heftiger Fußtritt aus seinen philosophischen Betrachtungen riss.
Endlich war die Reise überstanden. Kurz vor der Hafeneinfahrt Thedras hatte man Llauk erlaubt, sich zu waschen und seine feinen Kaufmannskleider wieder anzulegen. - Jetzt fühlte er sich gleich wie ein neuer Mensch.
Trotzdem belastete eine neue Sorge sein Gemüt. Die Befehle, die er in Sordos empfangen hatte, sahen vor, dass er sich eine Wohnung im Händlerfelsen von Thedra nahm. - Aber wie sollte das möglich sein?
Die einzelnen Felsen waren den verschiedenen Zünften zugeteilt und die Höhlen darin an die einzelnen Familien vergeben. Es gab keinen Platz in Thedra. Keine Familie würde ihre Wohnstatt freiwillig aufgeben.
Llauk machte sich wirklich große Sorgen. Was würde aus ihm werden, wenn er schon dieses erste Versprechen nicht einlösen konnte? - Nach Sordos zurückkehren? - Mit der `Großen Geliebten' etwa? - Undenkbar! Was aber dann?
Sed eb Rea würde Llauk die Bronzestücke, die er in einer schweren Kiste auf den Achterdeck aufbewahrte, nicht herausgeben, wenn die Bestimmungen nicht buchstabengetreu erfüllt wurden, das war gewiß. Aber Llauk brauchte das Geld. Sollte er sich etwa als Bettler durchschlagen, wenn er den Dramilen erst einmal entronnen war? - Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, das Geld zu stehlen. Estador war groß, und wenn Llauk die Hauptstadt erst einmal verlassen hatte, würde kein Dramile ihn mehr finden können.
Llauk zitterte am ganzen Körper. Es gab keinen anderen Ausweg. Er mußte fliehen. - Aber er wollte auch das Geld haben. Wieviel Bronzestücke wohl in der Truhe sein mochte? Tausend? Zweitausend? - Vielleicht sogar die Hälfte der versprochenen Summe, sechstausend?
Sechstausend Bronzestücke! Llauk fand, dass das wahrscheinlich wäre. Schließlich sollte er einen reichen Kaufmann spielen. Er würde Ausgaben haben, Ware kaufen müssen und Frachten bezahlen. Bestimmt waren sechstausend Bronzestücke in der Truhe, vielleicht sogar noch mehr ...
Llauk spürte, wie die altbekannte, unbändige Gier von ihm Besitz ergriff. Verstohlen sah er sich um. Die albernen Dramilen hatten bei ihrem `genialen' Plan natürlich nicht bedacht, dass er überhaupt nicht funktionieren konnte. - Eine Wohnung in Thedra. Lächerlich! Llauk würde sich wie üblich selber helfen müssen, wenn er jemals in den Genuß des Geldes kommen wollte. - Er hatte zwar noch keinen festen Plan, aber bestimmt würde sich noch irgend etwas ergeben. Nervös spielte seine Zungenspitze in den frischen Zahnlücken.
Thedra rückte näher.
"Was bringst du, Dramile?" Der Offizier der Hafenwache, der sich von einem Ruderboot hatte an Bord bringen lassen, war mürrisch und kurz angebunden. Das Boot, das ihn hergebracht hatte, war leck gewesen, und so stampfte er nun mit vollständig durchweichten Seestiefeln über das Deck der `Großen Geliebten'.
"Nur einen Passagier, Herr!" Sed eb Rea ging wieder ganz in seiner Rolle als devoter Handelskapitän auf. "Einen Kaufmann aus Eurer schönen Stadt, der bei uns in Sordos sein Glück gemacht hat. Stellt Euch vor, Herr, was ..."
"Schon gut!" Unwillig winkte der Offizier ab. Kurz streifte sein Blick Llauk, der mit stolzer Miene und erhobenem Haupt auf dem Achterdeck stand. "He, bist du nicht der Hungerleider, der sich vor einiger Zeit im Hafen herumgetrieben hat?"
Llauks Maske der Selbstsicherheit zerrann, wie eine Sandmalerei am Strand unter der ersten Welle. Mit einem ausgesprochen dümmlichen Schafsgesicht stand er da und wußte kein Wort zu sagen.
"Herr, wie sprecht Ihr mit Llauk, dem König der Händler?", entrüstete sich Sed eb Rea. "Ganz Sordos, ja ganz Dramil kleidet sich in die feinen Stoffe, die dieser ..."
"Schon gut!" Der Offizier besah sich ärgerlich seine nassen Stiefel. "Was hast du sonst noch geladen?"
"Weißholz und Leder für Cebor - Salzblöcke für Oskan - und Wolle für die Spinnereien von Col. Erlaubt, Herr, dass ich einige Tage in Eurem Hafen verweile. Ich suche noch Fracht."
"Hundert!" Der Offizier streckte die Hand aus.
"Gestattet, Herr, dass ich Euch Einhundertfünfzig aushändige." Sed eb Rea nestelte an seinem Gürtel herum und gab dem Mann einen Beutel. "Es mag sein, dass ich noch ein wenig länger bleiben muß. Dann braucht Ihr Euch nicht extra zu bemühen."
"Bleib, so lange du willst!" Der Offizier setzte sich auf die Reling und begann seine Stiefel auszuziehen. Das Boot, das ihn gebracht hatte, war inzwischen mit knapper Not zurück ans Ufer gelangt und wurde jetzt hastig ausgeschöpft.
"Soll ich jetzt die Ladeluken öffnen lassen?" Der Kapitän verbeugte sich tief. Sein schief gelegter Kopf gab ihm dabei den Anschein besonderer Demut.
"Schon gut! Nicht mehr nötig!" Der Hafenbeamte ließ einen Schwall Wasser aus seinem Stiefel auf das Deck plätschern. "Ich werde dem Hafenmeister ausrichten, dass du seine Familie grüßen läßt." Dabei schlug er mit der flachen Hand auf den Geldbeutel.
"Danke Herr, danke!" Der Kapitän zog sich zurück, um das Anlegemanöver vorzubereiten.
Llauk hatte die Unterhaltung der beiden Männer mit Spannung verfolgt.