Ben versuchte, fröhlich auszusehen, aber das fiel ihm sehr schwer, weil er dauernd an den armen Henk und das ihm gegebene Versprechen denken musste. „Das finde ich toll“, brachte er wenigstens zustande und sie machten sich auf den Weg zurück zum Auto.
Als sie auf dem Heimweg waren, konnte Ben sich nicht länger zusammen reißen und platzte heraus: „Mama, ich finde, du solltest deinen Beruf wechseln! In diesem Beklopptenheim wird jeder auf Dauer selbst verrückt, der dort zu lange arbeitet. Du bist immer müde und siehst total ausgelaugt aus. Du lachst kaum noch.“
Er erwartete Widerspruch und Zurechtweisungen, doch seine Mutter schwieg und starrte nur stur geradeaus. Nach endlosen Sekunden meinte sie dann zaghaft: „Ich denke seit Längerem über einen Ausstieg nach, aber ich habe mich nie getraut, darüber zu sprechen.“
Plötzlich trat sie auf die Bremse, setzte verspätet den Blinker und fuhr schnell rechts in eine Haltebucht. Tränen liefen ihre blassen Wangen hinunter und sie schluchzte laut auf: „Ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich bin überrascht, dass du damit angefangen hast, aber alles, was du gesagt hast, stimmt. Die Patienten werden nicht gut behandelt und ich habe das Gefühl, selber durchzudrehen.“
Mit dieser Reaktion hatte Ben überhaupt nicht gerechnet, dieser Tag war echt anstrengend. Verlegen kramte er nach einem Taschentuch und reichte es seiner Mutter, die es dankbar annahm.
Sie schnäuzte sich die Nase und wischte ihre Tränen weg. „So, jetzt ist es heraus und das ist auch gut so. Ich habe schon einen Plan, ich mache meine eigene Praxis auf. Was hältst du davon?“
Erleichtert stimmte Ben ihr zu: „Alles ist besser, als dieser Irrsinn da. Wenn du noch lange so weitermachst, dann wirst du selber krank werden. Du kannst nicht gegen deine Überzeugungen leben, dein Körper zwingt dich sonst in die Knie.“
„Wie kommst du denn zu solchen Gedanken? Du hörst dich fast wie Esther an.“
Ben grinste verhalten: „Mag sein, aber es ist doch tatsächlich so. Unter allen Leidenschaften der Seele bringt die Traurigkeit am meisten Schaden für die Seele.*
Stirnrunzelnd musterte Nora ihren Sohn, dann wurde ihr Gesichtsausdruck ganz weich: „Weißt du, dass ich das erste Mal seit langer Zeit das Gefühl habe, dass wir uns wirklich nah sind? Danke für deine ehrlichen Worte und dass du überhaupt bemerkt hast, dass es mir nicht gut geht. Schön, dass du dir Gedanken über mich machst.“
Tief berührt ergriff Ben die Hand seiner Mutter und drückte sie. „Mama, ich hab dich lieb“, flüsterte er, obwohl ihm das ein bisschen schwerfiel, aber er spürte, dass genau jetzt der richtige Moment dafür war.
Gerührt schaute sie ihn an: „Ich dich auch.“
Schloss d‘Aigle
In Frankreich, auf Magors Schloss, befand sich hinter einer Hochsicherheitstür aus Titan ein großer Raum, der mit technischen Geräten vollgestopft war. Überall blinkte und piepte es, immer wieder legte ein Drucker los und auf einer überdimensionalen Weltkarte leuchteten verschiedenfarbige Lichtpunkte. Drei Personen saßen dicht beieinander an einem Schreibtisch und schauten hochkonzentriert auf einen Bildschirm.
Mit seiner pfotenähnlichen Hand rollte Ronaldo, der Fuchsmann mit dem orangen Fell, eine Computermaus hin und her und erklärte mit heiserer Stimme: „Das ist der Sicherheitscode, um an die Informationen der Satelliten zu gelangen. Damit können wir dann überall auf der Welt sehen, was los ist und bei Bedarf eingreifen.“
Die beiden anderen waren die Fanreaner Nala und John, die seit ein paar Tagen von Ronaldo, dem Computerspezialisten, Nachhilfeunterricht erhielten, was moderne Technik, Internet, Tablets und vieles mehr betraf. Ronaldo war ein echter Nerd* und hatte die Gabe, sein Wissen leicht nachvollziehbar zu vermitteln.
Gegen Mittag stöhnte Nala: „Ich kann nicht mehr, mir raucht der Kopf. Ich muss mal an die frische Luft und auch etwas essen.“
„Ich habe etwas Leckeres für euch“, bot Ronaldo an und griff hinter sich in einen Karton. Es raschelte, dann hielt er etwas in der Hand. „Mäusespeck und Schaumküsse, probiert mal.“
Zögernd griffen die beiden Freunde zu und bissen jeder in einen Mohrenkopf. Angeekelt verzogen Nala und John das Gesicht.
„Bäh, wie süß ist das denn?“, fragte Nala und spuckte den Mohrenkopf in den Mülleimer. Mühsam würgte John seinen Bissen hinunter.
„Das ist doch lecker. Ich mag den Geschmack, testet mal den Mäusespeck.“ Verständnislos schüttelte Ronaldo den Kopf.
„Wir teilen uns eine Maus“, schlug Nala vor und steckte John ein Stück in den Mund.
Der kostete und schüttelte den Kopf. „Das schmeckt doch nur nach Chemie. Mein Ding ist es nicht.“
„Meines auch nicht“, bestätigte Nala.
Ronaldo zuckte mit den Schultern. „Ihr habt einfach keine Ahnung, was gut ist. Ich könnte mich den ganzen Tag damit vollstopfen.“
John zog eine Grimasse: „Also, ich muss jetzt aus dem Bunker hier raus. Nala, was hältst du von einer Runde Kampfsport? Oder sollen wir zusammen mit Komor noch mit den Armbrustpistolen trainieren?“
„Nee, nicht schießen, ich muss mich richtig bewegen. Erst Sport, dann essen und danach tüfteln wir hier unten weiter. Ronaldo, kommst du gleich auch hoch zum Essen?“
„Äh, nein. Ich muss da …“
„ … noch ein Problem lösen“, ergänzte Nala. „Das kennen wir schon. Mensch, komm doch mal nach oben und iss mit uns zusammen.“
„Vielleicht ….“
„ … morgen“, unterbrach dieses Mal John und grinste.
Seufzend zuckte Ronaldo mit den Schultern: „Ich lasse mir was von Migune bringen.“
Nala zog eine Schnute und stöhnte: „Du bist ein eigenbrötlerischer Computerfreak - wie ein Maulwurf. Schrecklich mit dir.“
„Ach Nala, ich kann nicht im Garten sitzen und fröhlich sein, wenn so viele Probleme in meinem Kopf herumschwirren und die Lösungen ganz nah sind. Ich wäre sowieso nicht kommunikativ.“
„Hoffnungslos“, murmelte Nala.
„Sei mir bitte nicht böse“, bat Ronaldo.
„Bin ich nicht, aber du verschwendest dein Leben und schenkst es irgendwelchen Maschinen. Das finde ich schlimm.“
„Ich nicht.“
Jetzt mischte John sich ein: „Nala, lass ihn doch. Es ist sein Leben und seine Entscheidung. Ist schon in Ordnung, Ronaldo, bist trotzdem ein feiner Kerl. Danke, dass du uns hilfst.“
Ein zögerliches Lächeln huschte über das Gesicht des Fuchsmannes. „Vielleicht morgen“, versuchte er es noch einmal.
„Schon gut, Kumpel“, beruhigte ihn Nala. „John, ab an die Luft.“
Der Fuchsmann begleitete sie durch die Sicherheitsschleuse und kehrte zufrieden ins Technikzentrum zurück. Mit den Gedanken war er schon wieder in seine eigene Welt eingetaucht.
Draußen erwartete die beiden Fanreaner strahlender Sonnenschein und sie atmeten tief durch.
„Endlich frische Luft. Wie kann der Fuchs es da unten nur so lange aushalten?“, wunderte sich Nala.
„Keine Ahnung, ich könnte das nicht. Ich würde es auch nicht in einer Stadt aushalten, aber wir sind eben alle verschieden. Fangen wir mit Karate an?“
„Okay.“
Die zwei begannen mit Dehnübungen und starteten dann ihr Trainingsprogramm im Schatten alter Olivenbäume. Als sie schließlich schweißüberströmt waren, duschten sie sich schnell ab und sprangen in den Pool. Nach einer Weile entschlossen sich die beiden, einen kleinen Mittagssnack einzunehmen.