Endlich hatte er die entsprechende Stelle gefunden: „Die erste Farbveränderung ist kaum wahrnehmbar und nur ein Kenner der Drachen kann mit Bestimmtheit sagen, dass das Schlüpfen demnächst bevor steht. Erst unmittelbar vor dem Schlüpfen ist die Veränderung deutlich zu sehen.“
Vielsagend sahen die drei sich an.
„Ich denke, es ist besser, ich fliege zu Osane und gebe ihr Bescheid, dass sie Magor informieren soll“, schlug Ilian vor.
Den drei Freunden war mulmig zumute. Machten sie alles richtig? Blieb ihnen noch genug Zeit bis zum Schlüpfen? Was, wenn Melvin zu spät käme?
Ilian schüttelte die quälenden Gedanken ab. „Mit Grübeln kommen wir hier nicht weiter, wir müssen handeln.“ Er versuchte selbstsicher zu wirken und meinte in gelassenem Tonfall: „Ich mache mich direkt auf den Weg. Ihr beiden haltet in der Zwischenzeit das Ei weiter warm und erzählt ihm Geschichten und Weisheiten, ganz so, wie es in dem Drachenbuch steht. Es soll ja schließlich kein doofer Drache schlüpfen. Bis bald, meine Freunde.“ Mit diesen Worten verließ er die Höhle.
Hilflos schauten Glenn und Orell sich an. Ergeben in sein Schicksal zuckte der Elf mit den Schultern und begann erneut, in dem zerfledderten Drachenbuch zu blättern: „Ich lese dir jetzt die Stelle mit dem Lernen im Ei vor.“
„Oh nein, nicht schon wieder! Du hast sie schon mindestens zehnmal zum Besten gegeben.“
„Egal! Es kann nichts schaden. Also hör zu: „Während der gesamten Brutzeit ist es unumgänglich, dem Drachenembryo Wissen zu vermitteln. Dies geschieht durch Geschichten, alte Weisheiten, Sagen, Gesänge und allgemeine Grundkenntnisse. Kein Gebiet sollte ausgelassen werden. Der Drache hat in seinem Urgedächtnis zwar Wissen gespeichert, ist jedoch voller Lerneifer und möchte sich während der Brutzeit nicht langweilen.“
Glenn machte eine dramatische Pause und Orell verdrehte genervt die Augen. Der Elf fuhr fort: „Besonders lieben Drachen Drachengeschichten...“
„Klar, dass diese eitlen und selbstverliebten Geschöpfe am liebsten heldenhafte Geschichten von sich selbst hören...“, schimpfte Orell.
„Ach, Orell, sei nicht so streng. Wir haben die Verantwortung für dieses ungeborene Wesen. Lass uns lieber überlegen, welche Geschichte wir ihm heute erzählen sollen. Oder sollen wir ein Lied singen?“
„Oh nein, nicht singen.“
„Okay. Was hältst du von dieser alten Erzählung, in welcher der Drache Mulatin die Elfenprinzessin rettet?“
Der geflügelte Hirsch gab sich geschlagen: „Also los, erzähl sie ihm.“
Grinsend tauchte Glenn ein in die alte Geschichte des Drachen Mulatin und seines grausamen Gegenspielers Krok, dem Höllenhund.
Richard und Songragan flogen seit zwei Tagen über die Berge in ein Gebiet, in das Richard bisher noch nie vorgedrungen war. Hinter ihrer Heimat waren die Berge zunächst schroffer und höher geworden und die Gipfel waren mit Eis bedeckt. Zum Glück lagerte in Songragans Satteltaschen immer eine dicke Felljacke.
Jetzt näherten sie sich ihrem Zielgebiet, der Sierra del fuego, in der immer wieder aktive Vulkane ausbrachen oder neue entstanden. Die giftigen Dämpfe waren tödlich und die Feuerglut wurde kilometerhoch in die Luft geschleudert, deshalb hatte Richard das Gebiet bisher gemieden. Für Songragan war das Feuer nicht bedrohlich, für Richard dagegen schon. In seiner jetzigen trotzigen Stimmung stand ihm der Sinn jedoch nach etwas Unvernünftigem.
Die Landschaft wechselte ihr Gesicht, die Berge wurden flacher und die Gegend wirkte leblos. Dann erreichten sie die ersten Ausläufer der Sierra und Richard staunte über die Struktur der erkalteten Lava. Songragan leitete einen kurzen Sinkflug ein und flog auf einer geringeren Höhe weiter. Erstarrte Lavafelder erstreckten sich endlos vor ihnen, schwarz und kahl. Im gleichmäßigen Rhythmus hoben und senkten sich die Flügel von Songragan, er zeigte nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen.
„Wie lange sollen wir noch weiterfliegen? Ich habe Hunger, ich muss jagen. Sonst werde ich ungemütlich“, knurrte Songragan.
„Hier gibt es nichts Lebendiges.“
„Meine Augen sehen am Horizont grün, die Lava führt zu fruchtbarem Boden und dort hinten werden wir Wild finden. Ich kenne das Gebiet.“
„Okay, dann vorwärts. Weißt du was, wir können doch einfach immer weiterfliegen, solange wir wollen und nicht mehr zurückkehren. “
„Und dein Vater? Was ist mit ihm?“
„Ach, ich weiß nicht...“ In Richard wuchs der Unwille gegenüber seinem Vater immer mehr, er nervte ihn und Richard waren die ständigen Ohrfeigen zuwider. Was sollte er Zuhause? Sich Geronimos Schmucksammlung ansehen? Den hoffnungslosen Versuchen zuschauen, wie Geronimo Gold herstellte? Zu seinem Vater hatte er keinen richtigen Bezug, sie lebten nebeneinander her. Rebellisch forderte er seinen Drachen auf: „Lass uns abhauen.“
Songragan widersprach: „Ich will zurück, die Drachinnen gehören mir, die gönne ich keinem anderen. Wir werden wieder nach Angar fliegen, wenn ich gejagt und gefressen habe.“
Aus Erfahrung wusste Richard, dass Songragan sich nicht umstimmen ließ und schwieg. Links und rechts von ihnen sah Richard am Horizont dampfende Vulkane. „Schau mal Songragan, die Vulkane seitlich von uns sind noch aktiv!“
„Ich weiß, ich war schon dort.“
Stundenlang flogen sie weiter bis sich die ersten Pflanzen zaghaft vorwagten, schließlich mehr wurden und am Ende die schwarze Wüste eroberten. Der Lavaboden war zu fruchtbarer Erde verwittert und der üppige Bewuchs bot vielen Tieren Zuflucht. Plötzlich schoss Songragan ohne Vorankündigung Richtung Erdboden, doch solche Manöver war Richard gewohnt und zudem war er angeschnallt. Im Sturzflug packte der Drache einen Monolan, brach ihm das Genick und setzte dann zur Landung an. Das geschah so schnell, dass das Tier nicht einmal zur Flucht angesetzt hatte.
Mit einem Ruck trennte der Drache eine Keule ab und warf sie Richard vor die Füße. „Hier für dich!“
Dankbar tätschelte Richard dem Drachen den Hals. „Hau rein, Junge, lass es dir schmecken. Ich suche Brennholz.“ Nachdem das Holz aufgeschichtet bereit lag, entzündete der Drache es mit einem Feuerstoß.
„Während du dein Fleisch grillst, fang ich mir noch etwas. Der kleine Appetithappen hat mir nicht gereicht.“
Nach ihrem Essen flogen Richard und Songragan weiter, bis sie schließlich über einem mächtigen Vulkankrater kreisten, der auffallend glatt geschliffene Wände hatte. Im Inneren des Kraters wuchsen Palmen, Obstbäume, Blumen und es schien so, als befänden sich dort von Menschenhand angelegte Felder.
„Was ist denn das für ein eigenartiger Krater?“, fragte Richard.
„Der ist tatsächlich seltsam, er ist durch Magie geschützt. Ich kann dort nicht landen, komme auch nicht näher heran. Da war ich schon mehrmals.“
„Du kannst die Magie nicht brechen? Du? Das macht mich neugierig, lass es uns ergründen.“
„Wie denn? Ich komme nicht hinein und kann auf dem Rand des Kraters nicht landen.“
Richard grinste: „Was wäre denn, wenn dort unten ein Schatz verborgen liegt?“
„Junge, auch damit kannst du mich nicht ködern. Ich habe alles versucht, der Zauber ist unüberwindbar.“
„Dann brauchen wir den entsprechenden Gegenzauber. Ich schnüffle mal in Geronimos Büchern herum, ob ich einen entsprechenden Spruch finde. Wir kommen wieder, okay?“ Richard ließ nicht locker.
„Wenn du einen Zauberspruch findest, der den Bann bricht, sofort. Ich bin selbst neugierig, wer oder was sich dort unten verbirgt. Manchmal sehe ich dort unten zwei Menschen, doch sie halten sich immer im Verborgenen.“
„Wie sehen sie denn aus?“
„Kann ich doch nicht erkennen, wenn sie in Deckung gehen.“