Träume aus dem Regenwald. Bernd Radtke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Radtke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742781581
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Aroma des heißen, süßen Kaffees war vermischt mit etwas anderem, das Jaíra nur zu vertraut war: der Geruch des Waldes und des Wassers. Sie setzte sich in den kleinen Sessel und ihre Gedanken schweiften zurück an den Fluss.

      Kapitel 1

      Eduardo steuerte das Kanu an die Baumkrone eines Urwaldriesen, der zu dieser Jahreszeit bis zu den unteren Ästen im Wasser stand. Dort warfen sie ihre Schnüre aus und bald lagen die ersten Piranhas und Salmler in ihrem Boot.

      »Das reicht für heute.«

      Erst jetzt, da der Fang das Abendessen sichern würde, fing ihr Vater an zu reden und Jaíra spürte, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte.

      »Letzte Woche ist ein Lehrer in der Missionsstation angekommen.«

      Jaíra interessierte das wenig. Hauptsache, sie konnte mit ihrem Vater auf dem Fluss und im Wald sein.

      »Er will, dass alle in die Schule gehen.«

      »Ich will nicht, ich will lieber mit dir zusammen sein.« Sie schmollte.

      »Du gehst zur Schule und damit basta!«, beendete ihr Vater das Gespräch.

      Jaíra konnte das nicht verstehen. Warum sollte sie den Tag in einer Schule verbringen? Ihr Vater hatte ihr alles beigebracht, was man zum Leben im Wald und am Fluss brauchte. Er war ein guter Lehrer und schließlich konnten die Fische auch nicht lesen.

      Noch immer schmollend steckte sie der Vater am nächsten Tag mit ihren beiden älteren Geschwistern Raimundo und Juçara in das Kanu und sie fuhren den Fluss hinunter zu der kleinen Ansiedlung, in der die Schule errichtet worden war. Vor dem hellblau getünchten Gebäude warteten etwa dreißig Kinder aus dem Dorf und der Umgebung, die Jaíra alle kannte.

      Jaíras Vater führte sie mit ihren Geschwistern in das Gebäude, in dem einige Männer und Frauen vor einer großen Tafel standen und redeten. Sie sah einen großen Mann. Staunend starrte sie auf die helle Haut und die blonden Haare. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

      »Oi, Eduardo«, begrüßte der große Fremde Jaíras Vater und die beiden klopften sich auf die Schultern.

      »Guten Tag, Kinder«, sagte der große Mann zu ihnen. »Wir haben etwas zu besprechen, wartet bitte vor der Schule, bis ich euch hereinrufe.«

      Jaíra und ihre Geschwister wurden hinausgeschickt. Aufgeregt redeten sie über den seltsamen Mann.

      »Der kommt bestimmt aus São Paulo«, vermutete Ronaldo, ein pickliger Junge, der mit seiner Familie am anderen Ufer des Flusses wohnte.

      Ibiri war, anders als Jaíra, von der Schule begeistert.

      »Meine Mutter ist ganz stolz auf mich, dass ich lesen lerne. Sie freut sich schon darauf, dass ich ihr dann immer aus der Bibel vorlesen kann«, sagte sie gleich.

      Wie Ibiri waren die meisten Kinder froh, eine Schule zu besuchen. Es war etwas Besonderes, nur nicht für Jaíra.

      Nach einiger Zeit wurden sie in den Saal gerufen und der Fremde trat nach vorne an die Tafel.

      »Hallo Kinder. Zuerst möchte ich mich vorstellen. Ich heiße Hans Ferber und komme aus Deutschland.«

      Neugierig geworden sah Jaíra zu, wie der Mann eine große Tafel herunterzog, auf der bunte Flecken inmitten einer blauen Farbe waren.

      »Das hier ist Brasilien.« Er zeigte auf einen der Flecke. »Und das ist der Amazonas, hier der Rio Negro. Wir sind ungefähr hier.«

      Staunend verfolgte Jaíra die Geschichten, die ihnen der Mann dort vor der großen Tafel erzählte. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie eine Landkarte, sah, dass die Welt nach der letzten Biegung des Flusses nicht zu Ende war, sondern erfuhr, dass ihr Fluss viele, viele Kilometer weiter in ein großes Meer floss, das Atlantik genannt wurde. Noch nie hatte sie von Europa oder Deutschland gehört. Jetzt sah sie dies alles. So hatte sie sich die Schule nicht vorgestellt. Ab sofort wollte sie gerne in die Schule gehen, um noch mehr neue und interessante Dinge zu erfahren. Das war unglaublich, was der Lehrer berichtete, und sie war traurig, als der Unterricht zu Ende war.

      Jaíra interessierte sich für alles. Ungeniert blieb sie oft nach dem Unterricht bei Hans Ferber oder besuchte ihn nachmittags, um ihren Wissensdurst zu stillen. Hans Ferber schloss das Mädchen, das immer alles wissen wollte und keine Ruhe gab, in sein Herz.

      »Danke für den Pacu.« Hans bestaunte den großen Fisch, den Jaíra ihm mitgebracht hatte.

      »Den habe ich selber gefangen. Soll ich ihn dir braten?«

      »Das ist eine gute Idee. Während du das Essen machst, kann ich an meinem Brief weiterschreiben.« Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

      Jaíra schuppte den Fisch und nahm ihn aus. Sie schnitt die Haut an den Seiten ein, rieb Salz und Pfeffer hinein und träufelte zum Schluss Limonensaft darüber. Während der Fisch in der Pfanne brutzelte und der Reis kochte, ging Jaíra zu Hans an den Schreibtisch und sah interessiert auf das beschriebene Blatt.

      »An wen schreibst du?«

      »An meine Eltern.«

      »Ist das deutsch?« Neugierig versuchte Jaíra die Schrift zu enträtseln.

      »Ja, meine Eltern können kein portugiesisch.«

      Jaíra kam eine Idee. »Kann ich auch Deutsch lernen?«

      Überrascht sah Hans das schlaksige Mädchen an, das ihn mit großen Augen bittend anschaute. »Willst du wirklich? Es ist nicht einfach. Hast du überhaupt Zeit, nach der Schule noch zu bleiben?«

      »Ich kann mit einem anderen Kanu in die Schule kommen. Dann muss ich nicht mit meinen Geschwistern zurück und habe Zeit.« Jaíras Gesicht wurde vor Eifer ganz rot.

      Ab sofort blieb Jaíra jeden Tag bei Hans und lernte. Am Anfang fiel es ihr schwer, die Worte richtig auszusprechen, bald machte sie jedoch Fortschritte. Sie spürte, dass es auch ihrem Lehrer Spaß machte, sein Wissen an sie weiterzugeben.

      Hans hatte ein Kinderbuch auf den Tisch gelegt und Jaíra las den Text. Sie verstand fast alles.

      »Wenn du so weitermachst, sprichst du bald perfekt«, lobte er sie. »Dann kann ich dich später einmal mitnehmen, wenn ich nach Deutschland fahre«, versprach er lachend.

      »Wirklich?« Stolz leuchteten ihn ihre großen schwarzen Augen an.

      Die Sonne versank gerade hinter den hohen Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Das Abendrot verzauberte den Horizont in alle möglichen Rottöne, die immer dunkler wurden, je mehr die große Scheibe der Sonne im Fluss versank. In der Ferne bewegte sich ein Punkt auf dem ruhig dahinfließenden Wasser.

      »Na, da kommt ja endlich deine Tochter.« Manara blickte vorwurfsvoll zu ihrem Mann.

      »Dass du dir immer so viele Gedanken machst«, antwortete er und legte den Arm um die Taille seiner Frau. »Sie ist vorsichtig und kennt sich aus. Du brauchst keine Angst zu haben.«

      Eduardo kannte seine Tochter. Oft streiften sie gemeinsam wochenlang durch den Urwald, notfalls konnte sie allein in der Wildnis übernachten. Bei ihr zeigte sich wie bei ihm das Erbe seines Großvaters, der noch ein richtiger Indianer gewesen war.

      »Ich mache mir mehr Sorgen um ihre Zukunft.« Er drückte Manara fest an sich. »Was soll sie hier im Wald mit ihrem ganzen Wissen? Es macht ihr solchen Spaß zu lernen. Soll sie später auch am Fluss leben, ohne Zukunft, mit vielen Kindern? Das macht mir Angst.«

      »Lass uns erst mal ans Ufer gehen und ihr helfen, das Kanu an Land zu ziehen.« Manara löste sich aus seiner Umarmung und ging zum Fluss. Eduardo folgte ihr.

      Mit dem letzten Tageslicht stieß die Spitze des Kanus ans Ufer. Stolz stieg Jaíra aus, ihre Augen strahlten, sodass ihr die Mutter nicht mehr böse sein konnte. Außer Atem stand sie vor ihnen.

      »Heute war es ganz toll. Wir haben angefangen, ein Buch zu lesen, und Hans hat mir versprochen, mich einmal mit nach