Hannemann erfuhr erst viel später davon. Doch eines blieb von ihr in seinem Leben erhalten: Er schiss fortan auf die Kirche, auf die Lehren des Funkturm Gottes bezüglich des sechsten Gebots und gleichfalls auf eine dauernde Missionarsstellung bei den unglaublich ungläubigen Heiden.
Der Zauberer wählte die Masken. Er verkleidete sich als Magier, und Gott trug Ihren Januskopf.
„Wo denkt Ihr hin?" Wie immer der Zauberer.
„Ich denke in seine Zukunft. In eine sehr ferne Zukunft, die auch in seiner Vergangenheit zu erklären ist."
„Schön, aber was ist jetzt? Was geschieht nach Tante Ute?"
„Nach Tante Ute beginnt für ihn die wundervolle Zeit des Übens. Er wird, er darf entdecken, dass alle jungen Frauen für sich etwas Eigenes haben. Etwas, durch das sie sich wie Blüten erschließen, wenn er nur ihre Fühler berührt. Es wird erregend für ihn sein, zu beobachten, wie weit seine verschiedenen Gespielinnen in seinen phantasievollen Bemühungen mitgehen, sie auf sein Lager zu ziehen!" Gott dozierte, das tat Sie gern.
„Warum verschiedene, warum so viele? Ich meine doch, für jeden Mann, also auch für ihn, sollte es nur zwei Frauen geben. Seine Traumfrau und die, welche sich ihn dann letztendlich schnappt."
„Typ A und Typ B? Schon, aber welche der Untergruppierten, welche der gerade unter ihm Liegenden gehört zu welchem Typus? Das ist doch das Erregende, die Jagd nach Erfahrung, eben dies beim Schmusen in Erfahrung zu bringen!" Sie erlaubte sich ein leises Lächeln.
„Für eine Person Eures höchsten Standes redet Ihr ganz schön frivol."
„Ihr steht auch nicht viel niedriger. Und sind nicht die Sinne, um sinnlich gelebt zu werden?"
„Ebenfalls wahr. Oder vielmehr eine Meinung. Eure. Verbindlich. Doch die vielen Gesichter, die vielen Namen?"
„Namen sind Schall und Rauch. Tante Ute war Schall und Rauch."
„Ein Traum? Wo Rauch ist, da ist auch Feuer."
„Selbstverständlich brennt es. Es brennt immer, aber Namen sind nicht verbindlich. Frauen ebenso nicht. Schaut in seine Zukunft, sie wird einiges erklären. Schaut gleichfalls in die der Anderen, denn sie allein wird ihm schließlich einen Altar blasen."
Ihren ersten Mann brachte Ingrid auf noch nicht sehr professionelle Art und Weise um, aber doch schon mit dem gewissen Charme, der all ihren Tätigkeiten anhaftete. Der erste Mann starb mit einem verzerrten Lächeln – allem Anschein nach vom Wesen einer christlichen Ehe schwer enttäuscht –, wobei er die geschwollenen Zunge seiner jungen Frau, die ihn fand und mit Tränenströmen bedachte, höhnisch entgegen streckte. Doch es war nicht Hannemann, der starb. Beileibe nicht.
Ihn hatte sie geliebt, seitdem seine Familie und er in das graue Patrizierhaus am entgegengesetzten Ende des Häuserblocks eingezogen waren, der auch ihre Wohnung beherbergte und der, gewaltiges Viereck, einen großen Innenhof umschloss. Sie hatte seine hoch aufgeschossene, magere Jungenfigur geliebt, seinen dichten Stiftenkopf, die ewig fragenden braunen Augen und den übergroßen Adamsapfel – Fahrstuhl aufwärts, Fahrstuhl abwärts. Vor allem hatte sie seine Hände geliebt, vierzehn Jahre alte Patschhände, die bei gesuchter, absichtlich unabsichtlicher Berührung so herrliches Stromrieseln auszulösen vermochten.
Ingrid wusste nicht zu sagen, wie oft sie – versteckt hinter den Tüllgardinen ihres Jungmädchenzimmers – auf die Stunden des Nachmittages gewartet hatte, zu denen er, Lichtgestalt vom anderen Ende des Hofes, endlich auftauchte und auf seinem aus geklauten Teilen zusammengeschraubten Fahrrad vor ihrem Fenster seine Runden drehte. Dabei wagte er ab und zu einen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung der Verborgenen. Das machte sie glücklich. Trotzdem ließ Ingrid ihn regelmäßig eine Viertelstunde warten, bis sie, ganz Unbeeindruckte, ebenfalls im Hofe erschien und ihm die Gnade ihrer Gesellschaft erwies. Dann fuhren sie zusammen Rad. Im Uhrzeigersinn.
Der Hof – der überdachte Innenhof – Dach wie Schutz und Abschluss nach oben und nicht wie Denken – für die damalige Zeit durchaus ungewöhnlich und modern bedacht – nun als Denken zu denken – einen riesigen Autohofkeller – oder Hofautokeller – mit vorstellbarer Sicherheit hundertdreiundachtzig mal neunundsiebzig Meter in allen Maßen – dessen wendelnde Steintreppenaufgänge – angelegt – um vor allem trockenen Fußes von den Garagen über den Autounterhof zu den einzelnen Häusern zu gelangen – an einem betonierten Weg von der Art der tausendjährigen Autobahn – nur entsprechend schmäler – mehr so kinderautobahnmäßig – auf der Gummireifen – folglich gleichfalls die von zwei nebeneinander fahrenden Zweirädern – alle zwölf Meter auf einer Betonplattenabschlussritze – Betonplattenanschlussritze – ganz nach jeweiliger Lebenseinstellung negativ oder positiv zu betrachten – so ein ähnliches Geräusch machten wie „Satt“ oder „Ich habe es satt" – Denkpause: Na was wohl? Richtig! – mündeten.
Auf dieser Kinderautobahn fuhren sie Rad: Hannemann innen, weil er ihr die engen Kurven abnehmen wollte, und Ingrid außen, wofür sie zwei- bis dreimal mehr in die Pedale treten musste, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Aber das machte ihr nichts aus, denn sie war ja glücklich. Viele Jahre lang.
Er versuchte dabei, die Oberschenkel im Gleichtakt zu halten. Sein rechter Oberschenkel oben, ihr rechter Oberschenkel oben – gut gebräunt und durch den hochgeschobenen blauen Schulmädchenrock für ihn bestens sichtbar. Sie dagegen achtete, irgendwie weiblich bedingt, das Gegenteil zu erreichen, nämlich sein rechter Oberschenkel oben, ihr rechter Oberschenkel etwas nachwippend unten. Und Wechsel auf das linke Bein.
Hannemann setzte sich durch, die Kurven erzwangen den Rhythmus: Rechte Kurve, rechter Oberschenkel oben, linkes Bein gestreckt, Rollen ohne Tritt, danach geradeaus weiter treten. Gleichtakt. Sie fuhren immer im Uhrzeigersinn, rechts herum und stundenlang, bis Ingrid ganz schwindelig vor Glück zum Abendessen musste und danach in der Ruhe ihres Zimmers über die Fahrt des Tages nachdenken konnte.
Sie verschloss dabei ihre Tür, legte sich auf das Bett, die Hand in ihr Höschen gesteckt, streichelte sich und stellte sich dabei vor, wie er, schüchterner Geliebter, sie auf einer einsamen Bergwiese im untergehenden Sonnenlicht zwischen Edelweiß und Almenrausch hingebungsvoll verführte. Dabei, feucht von seinen Wunschfingern, liebte sie ihn doppelt. Sie hasste ihn, als er anfing, zu anderen Weibern zu gehen, fühlte die Enttäuschung wie einen schwarzen Klumpen in ihrer Brust.
Ja, es schmerzte wahnsinnig. Warum nur zu anderen? Sie war ebenfalls bereit, sie wusste es. Es war gemein! Er war gemein! Wut und Feuer stiegen in ihr auf.
Auf einmal der Wandel, ein Fall in den Anfang: Für den winzigen Bruchteil einer Sekunde war sie die andere Frau, die seit Urzeit all das verstand. Sie erkannte die vornehmste Pflicht aller Weiber, gleich duftenden Blüten zu locken, zu verlocken und sich willig befruchten zu lassen, um der Welt geniale Knaben zu gebären. Sie sah die Liebe der von Anbeginn füreinander Bestimmten, doch sie sah auch die Betrogenen, die Tränen der Unterlegenen, welche fließen, wenn eine stärkere Verlockung den Befruchter vor der eigenen offenen Venusfalle wegschnappt. Die natürlichen Abläufe lagen klar vor ihr, aber auch das große weibliche Verzeihen, eingerichtet von einer weisen Natur. Und gleichfalls die neue Hoffnung.
Ein Vorhang fiel, sie war wieder sie selbst. Sie hasste Hannemann und verzieh ihm schließlich doch, nachdem sich ihre Freundin an den schüchternen Liebling herangemacht hatte. Ihre beste Freundin, die verrucht war, ihr langes schwarzes Haar offen trug, sich bereits die Lippen anmalte und sich angeblich am Busen anfassen ließ.
Marion hieß das Miststück, und diese Marion lud den ahnungslosen Tropf ausgerechnet zu dem