Ingrid und Hannemann – wie schön das klang – saßen still auf ihren Grauschimmeln. Er begann: „Du musst wissen, kleine Ingrid“, er kam sich bereits groß vor, fühlte sich voller Macht, „ich bin nicht nur ein Junge. Ich habe und hatte viele Gestalten, einmal war ich sogar ein Schmetterling. Ich lebte mit vielen Geschwisterchen fröhlich und ausgelassen bei einer mächtigen Trauerweide an einem kleinen Bach, und wir faulenzten alle Tage. Da erschien aus dunklem Nichts der schwarze Zauberer, der über die Nacht, den Donner und den Sturm gebietet. Der Schwarze aber fing uns in seinem klebrigen Zaubernetz, fesselte uns mit Seidenbändern, sodass wir uns nicht mehr rühren konnten. Wir waren zu Raupen geworden. Da hängte der Zauberer uns zwischen die Zweige der riesigen Weide.
Der böse Magier sammelte uns, um seine Amseln zu füttern. Die wollte er nämlich selber fressen, wenn sie genügend fett geworden wären und, knusprig gebraten, richtig lecker nach jungen Schmetterlingen schmecken würden. Jedenfalls konnte ich nichts sehen in meinem seidenen Mantel, aber ich hörte die Amseln herbeifliegen und meine Geschwister verschlingen. Du kannst dir vorstellen, meine Angst wurde übergroß.
Doch ich war stark, wollte länger leben und so kam ich auf eine kluge List. Ich lernte die Sprachen der anderen Tiere, welche aus diesen oder jenen geschäftigen Gründen meine Weide besuchten. Ich lernte das Krähen des stolzen Hahns, das Bellen des Hofhundes und das Grunzen und Quieken von Mutter Schwein, wenn sie ihre lehmigen Borsten an der rauen Rinde des Baumes rieb. Und als ich wieder die hungrigen Amseln heranfliegen hörte, schrie ich in höchster Not auf perfektem Schweinisch: „Oink, oink, wo sind nur die Amseleier, wo sind nur die Amseleier?“
Die dummen Vögel flogen sogleich voller Angst zu ihren Nestern, hoch in den Ästen der Bäume gebaut, und sorgten für ihre Brut. Doch sehr bald erkannten sie, dass Schweine gar nicht fliegen können, also keine Gefahr für Amseleier sind, und sie bekamen rasch wieder großen Appetit auf junge gewickelte Schmetterlinge. Mittlerweile sprach ich jedoch ebenfalls gut Katzisch, von der dicken Hauskatze aufgeschnappt, die so gerne nahe der Wurzeln der Weide schnurrte und nachts nach dem schwarzen Kater maunzte. Also schrie ich erneut die gefräßigen Flieger an: „Miauu, miauu, miooh, ich habe schrecklichen Hunger auf Amseln! Ich will auf der Stelle frische Amseln fressen, schöne fette Amseln!“
Erneut bekamen die Vögel fürchterliche Angst und flogen in Scharen davon. Durch mein lautes Katzengeschrei hatte ich aber die silberne Weidenelfe aus ihrem Sonnenschlaf geweckt, und sie lachte laut über mein erbärmliches Katzisch: „Ja, welcher Wicht plärrt denn da so in der ruhigen Mittagsstunde?“
Voller Ehrfurcht antwortete ich zitternd: „Ich bin es, ein kleiner Schmetterlingspupperich, der nicht von den Amseln gefressen werden will.“
Die Elfe hatte Mitleid mit mir und hüllte mich in feinen grünen Wutstaub. Die grüne Wut ließ mich sogleich wachsen, der Staub gab mir zornige Kraft, und ich rüttelte, schüttelte an meinen seidenen Schnüren. Ich riss mit meinen Zähnen an den Fesseln, endlich zerbiss ich die Stränge, fraß mir ein Lebensloch, quetschte mich durch und flog in das Licht.
Ich war der schönste Schmetterling auf der ganzen weiten Wiese geworden, besaß rote Fühler und prächtig gelbe Flügel, bunt getupft mit leuchtenden Kreisen. Und ich genoss die warmen Stunden unter der ewigen Sonne mit hier einem Schlückchen Rosenwasser und dort einem Häppchen Blütenpollen. Dann wiederum schwebte ich mit dem Sommerwind zwischen Gräsern und Blumen am Plätscherbach. Alle anderen Lebewesen, die Libellen, die Ameisen, die Mücken und selbst die Hummeln beneideten mich wegen meiner Schönheit. Da war ich mir ganz sicher. Ich spielte weiter in der lauen Luft, als ich plötzlich ein Leuchten zwischen den Grashalmen sah. Ich flatterte näher und hielt mich vor Überraschung an einem Kleeblatt fest, denn ich hatte wie durch ein Wunder einen großen funkelnden Diamanten entdeckt. Ein Edelstein für mich allein.
Der Edelstein hatte einer alten Bettlerin gehört und diese wiederum hatte ihn für einen Teller billiger Graupensuppe von einem verwunschenen Prinzen erhalten, als der nach drei Tagen – völlig verwirrt und ausgehungert – aus einem unwegsamen dunklen Urwald getaumelt kam und dankbar für die gute Mahlzeit die Alte reichlich belohnte. Doch die Bettlerin steckte den Stein in ihren zahnlosen Mund, um ihn sogleich, als er weder salzig noch süß schmeckte, noch sonst zu irgendetwas taugte, in das Gras meiner Wiese zu spucken. Da aber war der verwunschene Prinz, gestärkt von der billigen Graupensuppe, bereits wieder auf seinem schnaubenden Rappen unterwegs zu den sieben Bergen, wo das Schneewittchen und die sieben Zwerge längst auf ihn warteten. Der Stein war daher mein.
„Du bist das Allerschönste auf der grünen Erde, und ich werde dich hüten und bewahren wie mein eigenes flattriges Leben.“ Das schwor ich dem glitzernden Stein, doch er gab keine Antwort. Obwohl er sich sicherlich wunderte, warum er sich auf einer feuchten Wiese befand und was er da anstellen sollte. Ich jedoch hielt meinen Schwur, ließ mich auf ihm nieder, breitete meine gelben Flügel über ihn und versteckte unter ihrem Schatten seine strahlende Schönheit. Es war mein Stein, ich wollte auf ewig für ihn sorgen. Diese Aufgabe überstieg allerdings bald meine Kräfte, meine Flügel wurden zittrig lahm. Erneut half der grüne Wutstaub, und ich rief mit letzter Kraft die Weidenelfe zu Hilfe.
„Möchtest du denn ewig mit der kalten, unnützen Pracht eines Steines leben?“, fragte mich die kluge Elfe. „Schau, du hast die Sonne und den warmen Sommerregen, dir gehören die reifen Früchte und deren Nektar, und du darfst mit dem Wind und den Blumen spielen. Willst du das wirklich alles für einen derart eisigen Gesellen aufgeben?“
„Aber ich bin jetzt reich, unermesslich reich! Ja, ich will auf ewig mit meinem Reichtum leben“, trotzte ich der Elfe. Da schüttelte sie traurig ihre Silberlocken, folgte jedoch meinem Wunsch. Sie fuhr mit ihrem Zauberstab durch die Sommerluft, der Himmel verdunkelte sich, und es regnete viele durchsichtige Kristalle. Diese Kristalle umschlossen den stummen Stein und mich für immer in einer gläsernen Kugel.“
Hannemann hatte geendet, saß stumm auf seiner Tonne und wartete auf Ingrids Lob. Der Tonnendeckel drückte seinen Po, er spürte den Schweiß der Aufregung unter seinen Achseln, doch die junge Wilde rührte sich nicht. Sie schwieg, hatte wohl den Sinn seines Märchens nicht verstanden.
Ingrid war enttäuscht und übertünchte ihre Enttäuschung mit gespielter Langeweile, drohte sogar damit, ihn nach wenigen anregenden, jedoch keineswegs befriedigenden Nachmittagen zu verlassen. Das durfte schlichtweg nicht sein, und in seiner Not, die Geliebte für immer zu verlieren, schlug er ihr vor, mit ihm Rad zu fahren. Im Hof. Nebeneinander im Uhrzeigersinn. Ingrid willigte ein. Sie fuhren viele Jahre im Uhrzeigersinn nebeneinander.
Später, wann immer ihn die Fügung nach München trieb, nahm sich Hannemann die Zeit, das prächtige Haus zu besuchen, welches Ingrids Heranwachsen beschützt hatte. Hannemann studierte dann das Klingelschild, als ob es noch ihren geliebten Namen trüge. Doch sie war gegangen, unverzeihbar, mit einem pickeligen Brillenpimpf und hatte sein eigenes, ehrlich gemeintes Heiratsversprechen schnöde dem Wind geschenkt.
Noch viele, teils hässliche Geschichten später, als er sich endlich von der Blonden getrennt hatte, war er doch tatsächlich versucht gewesen, eine Detektei zu beauftragen, um Ingrids momentanen Lebensumstände auszuforschen. Und wenn sie in der Gosse lag, bitter enttäuscht von diesem Aknenichts – da war er sich sicher –, wollte er sie an sein gütig verzeihendes Herz nehmen. Allein der Gedanke, etwas, das sich möglicherweise doch bewährt hatte, mit seinem omnipotenten Auftreten zu zerstören, hatte ihn letztendlich davon abgehalten. Aber Hannemann wusste auch, dass ein ewig ausgleichendes Schicksal zusammenfügen würde, was zusammenfinden sollte.
Der Zauberer blickte eine Frage, doch Gott war für diesmal ohne Antwort. Sie betrachtete sich im Spiegel, grübelte über die Farbe Rot.